In der vergangenen Woche ist mein Betreuter Heinrich (59 Jahre alt, Name geändert) verstorben. Eine Ursache für seinen Tod wurde nicht diagnostiziert. Nach meiner nicht medizinfachlichen Einschätzung ist er 2,5 Monate nach den ersten Beschwerden durch Nichtbehandlung durch unser Krankenhaussystem verstorben. Dieses System krankt daran, dass ambulante Behandlungen Vorrang bekommen, auch wenn eine stationäre Diagnostik lebenswichtig ist.

Heinrich magerte plötzlich ab. Er klagte über Schmerzen im Arm. Der Notdienst des Hümmling Krankenhauses Sögel legte den Arm in Gips und verordnete eine ambulante MRT-Untersuchung. Ein Termin für ein MRT in Cloppenburg konnte wahrgenommen werden, aber die Untersuchung konnte in diesem Gerät nicht durchgeführt werden, weil Heinrich wegen der Schmerzen im Arm den Arm nicht ausstrecken konnte. Wegen der Hilflosigkeit von Heinrich wurde ein Pflegedienst (mit Rezept des Hausarztes) beauftragt. Außerdem wurde Essen auf Rädern bestellt.

Heinrichs Allgemeinzustand verschlechtert sich zusehends. Er  will nicht ins Krankenhaus, aber lässt sich von allen Helfern überreden, den Notarzt rufen zu lassen. Im Krankenhaus Sögel wird eine Lungenentzündung festgestellt und mit Antibiotika behandelt. Der Arm wird nicht beachtet. Die Krankenhausleitung erklärt uns, dass nur die für die Aufnahme diagnostizierte Erkrankung behandelt werde, weil nur diese von der Krankenkasse bezahlt werde. Das sei zwar hart, aber so seien die Regeln. Erst nach Intervention der ambulanten Wohnbetreuung und durch mich wird wenigstens ein orthopädisches Konsil durchgeführt. Der Orthopäde diagnostiziert nach einer Ultraschalluntersuchung eine Flüssigkeitsansammlung im Arm und schlägt eine ambulante MRT-Untersuchung vor. Nach einigen Tagen ist die Lungenentzündung im Griff und Heinrich wird entlassen. Ein neuer ambulanter MRT-Termin wird vereinbart. Die Hausarztpraxis spricht davon, dass diese mit einer Sedierung möglich sein sollte.

Doch noch vor dem Termin stürzt Heinrich und bricht sich zwei Rippen. Er ist weiter abgemagert und wird ins Krankenhaus Papenburg eingeliefert. Er wird auf der geriatrischen Station aufgenommen. Es wird uns versichert, dass die Aufnahmediagnose Multikomplexerkrankung laute. Wir haben die Hoffnung, dass nun endlich untersucht werde, warum Heinrichs Allgemeinzustand sich ständig verschlechtert.

Nach einer Woche heißt es, Heinrich werde aus dem Krankenhaus entlassen. Als weitere Behandlung wird Lymphdrainage vorgeschlagen. Wegen des weiter verschlechterten Allgemeinzustandes wird vom Entlassmanagement eine Kurzzeitpflege vorgeschlagen. Die vorläufige Einstufung in den Pflegegrad 2 ist mittlerweile erfolgt. Das Krankenhaus hat offensichtlich den Arm nicht weiter untersucht, wahrscheinlich einfach deshalb, weil  ein Standard-MRT nicht möglich ist.

Der Hausarzt weigert sich, Lymphdrainage zu verschreiben, weil es überhaupt keine Diagnose dafür gebe. Das ist aber auch weiter nicht schlimm, weil es auch nicht gelingt, einen Physiotherapeuten zu finden, der noch Kapazitäten frei hat für den erforderlichen Hausbesuch in der Kurzzeitpflege.

Heinrich sitzt mittlerweile im Rollstuhl und ist in der Kurzzeitpflege froh, dass er rundum versorgt ist und Gesprächspartner findet. Er ist zu schwach, um sich Sorgen zu machen.

Die Hausarztpraxis besorgt einen neuen MRT-Termin am Mittwoch vor Ostern in Cloppenburg. Wir bekommen eine Tablette (Tavor) mit, die Heinrich unterwegs nehmen soll, damit er rechtzeitig sediert ist, wenn der Termin stattfindet. Ich impfe Heinrich auf der Fahrt nach Cloppenburg, dass er unbedingt kooperieren müsse, damit wir endlich eine Diagnose bekommen.

In der Radiologischen Praxis ist man zunächst sauer, weil wir schon wieder auflaufen, denn die Untersuchung war beim letzten Mal schon nicht möglich. Ich sage, wir schaffen das und ich helfe auch. Die Schwierigkeiten sind zunächst einfach „normale“ Schwierigkeiten von behinderten Menschen. Der Rollstuhl darf nicht in den MRT-Raum geschoben werden. Ich als Helfer soll ihn nicht begleiten dürfen, doch nachdem ich alle Metallteile abgelegt habe, darf ich doch. Als ich frage, ob mein Gürtel mit Metallschnalle auch wegmüsse, heißt es plötzlich „Egal, Sie kommen ja nicht ins MRT“. Wir schleppen Heinrich, der nicht allein stehen kann, zum MRT-Gerät. Er gerät in Panik, weil er drei große Stufen (ohne Geländer) hinaufbefördert werden müsste.

Die Mitarbeiterinnen erklären, dass Heinrich unmöglich auf dem Bauch liegend mit ausgestrecktem Arm eine halbe Stunde im MRT verbringen könne. Angesichts seines Hustens „erstickt uns der ja.“ Wir geben auf. Auf Nachfrage erklärt eine Mitarbeiterin, Heinrich könne nur stationär untersucht werden. Ein offenes MRT gebe es in Osnabrück. Das müsse der Hausarzt verschreiben.

Zurückgekommen wird mit der Hausarztpraxis eine Blutentnahme vereinbart, damit Argumente für die stationäre Aufnahme in Osnabrück gewonnen werden können.

Am Karfreitag stellen die Pflegerinnen der Kurzzeitpflege einen Harnverhalt fest und legen einen Katheter an. Es kommt Blut. Der RTW bringt Heinrich ins Krankenhaus nach Leer, Urologie. Dort wird nur der Katheter gewechselt und Heinrich zur Kurzzeitpflege zurückgebracht. Am nächsten Morgen ist die Sauerstoffsättigung so gering, dass die Kurzzeitpflege erneut den Krankenwagen ruft. Heinrich wird nach Sögel gebracht. In der Nacht von Ostermontag auf Dienstag verschlechtert sich der Zustand. Am Dienstagmorgen kurz vor 11 Uhr verstirbt Heinrich. Eine Diagnose hat es nicht gegeben. Eine Krebserkrankung, die spontan nur in der Armbeuge ausbricht, erscheint unwahrscheinlich. Eine Sepsis (Blutvergiftung) wegen einer unbehandelten Entzündung im Arm erscheint wahrscheinlicher. Kein einzelner Arzt hat sich nach den Regeln schuldig gemacht. Eine Überweisung in eine Einrichtung mit einem offenen MRT hätte geholfen. Aber eine solche gezielte Diagnosestrategie ist in unserem Krankenhaussystem nicht mehr vorgesehen.

Bei unklaren Erkrankungen hieß es früher, „der muss ins Krankenhaus, damit man mal rauskriegt, was er hat.“ Das kann man heute vollkommen vergessen. Kurze Krankenhausliegezeiten sind seit einigen Jahren ein Fetisch, dem alle Akteure im Krankenhauswesen anhängen. Früher, heißt es immer wieder, seien Menschen unnötig lange im Krankenhaus geblieben, nur weil das Krankenhaus verdienen wolle. Jetzt würden Kranke mit modernen Methoden behandelt und schnell wieder entlassen, weil das aus verschiedenen Gründen sowieso besser sei. Für die Zeit der Genesung nach einem Eingriff wurde die Kurzzeitpflege ersonnen. Alles billiger – alles besser!

Nach der Konzeption des Gesetzgebers ist die ambulante vertragsärztliche Versorgung vorrangig zu nutzen. Es handelt sich daher um eine Fehlbelegung, wenn die vollstationäre Krankenhausbehandlung nicht erforderlich gewesen ist. Die Beurteilung dieser Frage richtet sich offiziell nach medizinischen Erfordernissen. Die Diagnosestellung soll also immer ambulant erfolgen. Das bedeutet, bei unklaren Erkrankungen, aber auch bei eindeutigen Diagnosen, werden die Patienten auf den Weg durch die ambulanten Praxen verwiesen. Auch bei Krebsverdacht sollen Patienten die lange Wartezeit in Kauf nehmen, der dann vielleicht eine neue lange Wartezeit folgt, weil der erste Facharzt nicht zuständig war. Die Apparate in den Krankenhäusern dürfen nicht benutzt werden, weil für die Krankenkassen die Frage der Vergütung vorrangig vor dem Gesundheitsinteresse der Versicherten ist.

Wurde ein Versicherter in einem Krankenhaus stationär behandelt, obwohl dies nicht erforderlich war, weil eine ambulante Krankenbehandlung nach den oben genannten Kriterien ausgereicht hätte, steht dem Krankenhausträger kein Vergütungsanspruch zu. Das gilt auch dann, wenn die ambulante Behandlung für die Krankenkasse höhere Kosten verursacht hätte. [jdm]