Die Diskussion über Rassismus in der Polizei wird mit viel Scheinheiligkeit geführt. Eine überspitzte Kolumne in der Taz wurde von Innenminister Horst Seehofer genutzt, um sich als Beschützer der Polizei zu inszenieren. Und die SPD-Vorsitzende Esken wurde wegen eines mehr als moderaten Hinweises zu kritischen Entwicklungen bei der Polizei zu einer Quasi-Entschuldigung gezwungen. Lehrer haben auch einen schweren Job, aber niemand würde sie deshalb heilig sprechen und ihnen die Anwendung von Gewalt durchgehen lassen. Ganz anders bei der Polizei.

Dass Polizisten heutzutage einen schweren Job haben, ist sicher unbestreitbar. Denn viele Krisenfolgen werden auf die Polizisten abgewälzt: Undemokratische, umweltfeindliche Projekte, wie Atommülltransporte, der sinnlose Bahnhof in Stuttgart (wo ein Wasserwerfer der Polizei einem friedlichen Demonstranten seine Augen ausspülte), sinnlose Gipfel von Politikern (z. B. G7), auf denen die weitere Ausbeutung der Welt durch die reichen Industriestaaten beschlossen werden, aber auch der alltägliche Frust der immer mehr werdenden Obdachlosen, der Abgehängten, der steigende Verbrauch an Alkoholika und Drogen, der Mangel an sinnvollen und nichtkommerziellen Angeboten für die Jugend. Immer sollen Polizisten diese Konflikte mit der Anwendung des Gewaltmonopols des Staates befrieden, wenn nicht sogar lösen.

Aber – und das ist eine alte Erfahrung jeder Demokratiebewegung – wo Macht und Gewaltpotential vorhanden sind, ist der Missbrauch nicht weit weg. Ältere kennen noch den prügelnden Lehrer oder den missbrauchenden und gewalttätigen Priester als Quasi-Standard. Beim Militär hat die strenge Hierarchie seit jeher Machtmissbrauch gegenüber Untergebenen gefördert. Und wir wissen heute, besonders nach den Vorgängen beim KSK, dass auf dem Humus solcher Sphären von Macht und Missbrauch auch rechte Ideologien und Rassismus prächtig gedeihen.

Frühere Missbrauchsverhältnisse in der Kirche und der Erziehung sind heute nicht mehr so denkbar – auch weil die Macht eingeschränkt wurde: Die der Priester sowieso, aber auch in der Erziehung ist die Anwendung von körperlicher Gewalt – auch durch Eltern verboten. Beim Militär soll der Wehrbeauftragte die einfachen Soldaten schützen; brutale männlichkeitsfixierte Rituale werden von der Kommandoebene zumindest nicht mehr gedeckt, wenn sie bekannt werden.

Lehrer haben auch einen schweren Job, aber niemand würde sie deshalb heilig sprechen und ihnen die Anwendung von Gewalt durchgehen lassen. Anders bei der Polizei: Sie wird von der Politik und der Mainstream-Presse als über allem Verdacht stehende Organisation pauschal von allen Fehlern freigesprochen.

Dabei gibt es in Deutschland immer wieder Hinweise auf neonazistische und rechte Netzwerke in der Polizei. Und hier vor allem, je spezialisierter und bürgerferner die Einheiten sind. Aber auch bei der „normalen“ Polizei gibt es Hinweise auf rassistisches Denken. Deutsche, deren Aussehen auf einen Emigrationshintergrund schließen lassen, werden häufiger kontrolliert. Schwarze Deutsche berichten, dass sie während einer Bahnfahrt durch Deutschland mit mehrfachen Kontrollen rechnen müssen. Welcher weiße Deutsche kann sich überhaupt an eine Polizeikontrolle erinnern?

Wenn die Polizei die Schusswaffe verwendet, wird dies ausnahmslos nicht geahndet und als Notwehrsituation beurteilt. Dabei fällt auf, dass die Notwehrsituation nicht immer so offensichtlich ist, wie dargestellt wird. In Twist ging es am 18.06.2020 um einen mit einem Messer bewaffneten, der nach Zeugenangaben einen verwirrten Eindruck machte. Eine simple Google-Recherche mit „Schuss Messer Wohnung“ ergibt ein große Zahl von Zeitungsberichten, über Schusswaffeneinsatz bei Verwirrten. Das lässt zumindest die Frage aufkommen, ob Polizisten heute vielleicht nicht ausreichend auf Konfliktsituationen vorbereitet sind. Oder besteht ein anderweitiger Druck, z. B. Zeitdruck, z. B. durch Überstundenmüdigkeit, der eine Deeskalation verhinderte?

Auf Hallo-Wippingen haben wir in einem Artikel über das neue niedersächsische Polizeigesetz gewarnt: „Dieser Vorfall zeigt, wie die Militarisierung der Polizei und die Konditionierung der Polizisten, dass sie es nicht mit Bürgern, sondern potentiellen „Gefährdern“ des Staates zu tun haben, ihre Verhaltensweise verändern. Aus dem Freund und Helfer wird der Bewacher und Bekämpfer des Bürgers.“

Als SPD-Chefin Saskia Esken vor Kurzem in einem Interview sagte: «Auch in Deutschland gibt es latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte, die durch Maßnahmen der Inneren Führung erkannt und bekämpft werden müssen.» wurde sie in einer Weise kritisiert, wie wir sie sonst nur im religiösen Bereich als Vorwurf der Gotteslästerung kennen.

Die sicher nicht besonders differenzierte oder witzige Kolumne in der Taz vom 15.06.2020 führte mal wieder zu einer typischen Scheindiskussion: Seehofer konnte sich wieder einmal als Verteidiger von Law and Order inszenieren. Wer sich im öffentlichen Raum als Beschützer von Militär, Polizei und anderen Machtorganen aufmandelt hat immer gute Karten – in Deutschland, wie auch in den USA. Richtig ist das nicht. Die Gründer der US-Demokratie, aber auch diejenigen in Frankreich, England und Deutschland, wussten noch, dass in einer Demokratie die Machtorgane demokratisch kontrolliert werden müssen, wenn sie nicht irgendwann die Demokratie gefährden sollen.

Burkhard Ewert wollte in seiner „Analyse“ in der Ems-Zeitung vom 27.06.2020 zu Seehofers Ansinnen zwar keine „direkte Kette zur Gewalt gegen Staatsbedienstete … von Kolumnen à la „taz“ oder anderer antipolizeilicher Agitation“ ziehen.

Aber in den folgenden Sätzen führt er ein Sammelsurium von verschiedenen Auseinandersetzungen auf, die er summarisch den Polizeikritikern als Handeln oder zumindest deren Billigung unterstellt, um dann festzustellen: „Gemeinsam sind diesem aktivistischen Handeln Hochmut, Doppelmoral und die Missachtung der Meinung anderer, ja, die Missachtung anderer Menschen.“ Möglicherweise hat er damit Recht. Aber was – bitte schön – hat dies mit der berechtigten Kritik an falschem Polizeihandeln zu tun?

Wer einzelne Lehrer kritisiert, kritisiert nicht alle. Wer auf Fehler am Handeln einer Schule hinweist, hilft ungünstige Strukturen zu verhindern. Wer Ärzte kritisiert, kritisiert nicht alle Ärzte. Wer Hygieneprobleme in einer Klinik öffentlich macht, verdammt nicht alle Krankenhäuser, sondern hilft die Arbeit besser zu machen.

Warum kann es nicht möglich sein, falsche Strukturen bei der Polizei zu kritisieren, ohne dass Medien und Politiker gleich den Untergang des Staates an die Wand malen und ihren antikommunistischen Reflexen freien Lauf lassen. Besteht etwa kein Interesse daran, die Polizei als „Freund und Helfer“ zu organisieren? Haben nicht auch Polizisten ein Interesse daran, dass sie nicht mit rassistischen Kollegen zusammenarbeiten müssen? Geht es Einigen vielleicht gerade darum, die Polizei für die Durchsetzung von ökonomischer Macht in härter werdenden Zeiten zu missbrauchen? [jdm]