Tiefflieger – Nomen est Omen
Düsenlärm ist nicht der Sound der Freiheit, sondern ein Weckruf
In den Medien unseres Landes war es nicht nur irgendeine Nachricht. Mit unfasslicher Selbstverständlichkeit wurde vermeldet, dass es wieder regelmäßig Tiefflieger (und damit Fluglärm) über Deutschland geben wird. Besatzungen von Tornado und Eurofighter müssten sich auf einen großen Krieg gegen Russland vorbereiten, sollte die Abschreckung versagen. Der Tiefflug sei eine unabdingbare Notwendigkeit für die Einsatzbereitschaft der Luftwaffe. Die Argumente, die man vorbringt, sind offiziellen Texten aus dem Luftwaffenteil der Bundeswehr-Homepage entnommen. Das Unfassliche für mich besteht darin, dass diese Texte schon in den 1970er und 80er Jahren an gleicher Stelle zu lesen waren. Sie wurden damals von Militär und Politik Mantra-artig vorgetragen, wenn Bürger gegen den Tiefflug protestierten, weil der Lärm nicht mehr zu ertragen war oder aus dem Tiefflug abstürzende Maschinen an Ortsrändern von Dörfern und Kleinstädten aufschlugen und explodierten.
Nun ist das Nutzen von Textbausteinen aus der Vergangenheit nichts Verwerfliches, solange die Inhalte noch stimmen. Sie stimmen aber überhaupt nicht mehr. Sie stimmten schon lange nicht mehr, wie sich im 2. Golfkrieg (Desert Storm), der vom 17. Januar – 28. Februar 1991 dauerte, herausstellte. Hier sind ein paar Textbausteine aus der Bundeswehr-Homepage, die am Beispiel des 2. Golfkrieges (Desert Storm) ad absurdum geführt werden.
Tiefflug …
- stärkt die Vorbereitung auf Luft-Boden-Einsätze und erlaubt realistischere Anflüge und Geländeflug.
- trägt den operativen Erfordernissen taktischer Luft/Boden-Einsätze (Luftnahunterstützung, Abriegelung des Gefechtsfeldes, dynamische Zielbekämpfung) Rechnung.
⁃ reduziert die Erfassbarkeit durch gegnerische Radare, nutzt von Radar
nicht einsehbare „Gelände-Schatten“ (Terrain Masking) und begrenzt die Wirkräume bodengebundener Luftverteidigungssysteme.
⁃ ermöglicht Ausweichprofile gegen Flugabwehr.
In den ersten Tagen des Luftkrieges gegen den Irak des Saddam Hussein verloren die Briten ein Dutzend Tornado Jagdbomber. Sie wurden während des Tieffluges abgeschossen. Getreu der Einsatzgrundsätze der 70er Jahre, die nicht zuletzt zur Entwicklung des Tornado führten, sind die Jets der Royal Air Force im Tiefflug in den Irak eingedrungen, um mit ihrer Hauptwaffe, dem Submunitionsbehälter JP233, Flugplätze der irakischen Luftwaffe zu zerstören. Diese Flächenwaffe, die Minen und Startbahnbomben verstreute, war speziell für den Tiefflug ausgelegt. Das deutsche Tornado hatte als Äquivalent die Mehrzweckwaffe 1 (MW1). Man war seit Ende Zweiten Weltkrieg darauf fokussiert gewesen, beim Einflug ins Feindgebiet nicht entdeckt zu werden bzw. die Auffassungszeit so weit zu reduzieren, dass eine Bekämpfung nicht möglich war. Was man ausgeblendet hatte, war die Fortentwicklung der Flugabwehr der Landstreitkräfte. Waffentechnik, Digitalisierung und Vernetzung haben dazu geführt, dass Heeresverbände, gleichgültig, wo sie sich befinden -auf dem Marsch oder im Gefecht – eine permanente Luftverteidigungsglocke über sich haben. Sie reicht bis ca. 10 000ft (3000m) und erstreckt sich etwa 100km ins Feindgebiet. Wer da hineinfliegt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit abgeschossen. –
Im erwähnten Golfkrieg wurden nach den Tiefflugverlusten alle Luftangriffe nur noch aus Höhen über 10 000 ft durchgeführt. Dort bestand die Bedrohung nur noch aus Flugabwehrraketen der klassischen Luftverteidigung. Deren Radargeräte konnte man stören. Raketen, die einmal im Anflug waren, konnten rechtzeitig gesehen werden, um sie auszumanövrieren. Nach denselben Regeln wurde der Luftkrieg der NATO gegen Rest-Jugoslawien (Kosovokrieg 1999) durchgeführt. Es gab keinen Tiefflug und keine Luftangriffe unter 10 000ft. – Sollten die Ukrainer es tun, tun sie es aus Verzweiflung. Einen 100 Millionen Kampfjet im Tiefflug gegen einen 4,5 Millionen teuren russische T90 Panzer einzusetzen, rechnet sich nicht.
Man kann davon ausgehen, dass die jetzt angekündigte Weiter-Entwicklung von offensiven und defensiven Waffensystemen, Sensoren und Vernetzungsmöglichkeiten zu einer weiteren „Entmenschlichung“ des Krieges führen wird. Menschen werden nach wie vor die Opfer sein. Den Krieg selbst werden Roboter führen. AI in der Perversion. Drohnen, Hyperschallraketen und Iron Domes sind die Vorboten. Die Tiefflieger, die uns jetzt Lärm bescheren, sind nicht das Problem. Es sind die geistigen Tiefflieger in Politik, Medien und Industrie, die unserer Bevölkerung Rüstung und Kriegsvorbereitung als notwendig einreden wollen. Ob naiv, dumm oder berechnend, wer den Tiefflug als notwendig argumentiert, entlarvt sich als geistiger Tiefflieger. Da drängt sich die Frage auf, was diese Menschen uns in den vergangenen Kriegsjahren noch an „Müll“ erzählt haben.
Vor dem Hintergrund meiner Berufserfahrung als „Kalter Krieger“ in der Luftwaffe und nicht zuletzt meiner Generalstabsausbildung bei der US-Air Force, in der ich Informationen zum Golfkrieg 1992 aus erster Hand bekam, habe ich den Ukraine-Krieg verfolgt und letztes Jahr ein kleines Taschenbuch darüber veröffentlicht. Sie werden Spuren des Mülls vorfinden, die gewisse Tiefflieger hinterlassen haben. – Unsere ehrlichen Tiefflieger werden es jetzt tun, wie man es von Ihnen erwarten kann. Hoffen wir, dass nichts passiert und dass sie immer wieder sicher landen. Sollten Sie in der nächsten Zeit einmal Düsenlärm hören, vielleicht denken Sie daran, dass es noch andere Tiefflieger gibt. [Ulrich Scholz, erstveröffentlich auf Ulrichs Newsletter]

