Die NATO – Störer eines europäischen Friedens
Alternative Geschichte, oder was hätte sein können
Militärs gehen rückwärts in die Zukunft
NATO Hauptquartier NORTH in Stavanger 1995. Eine Gruppe russischer Journalisten war zu einem Informationsbesuch gekommen. Nachdem man ihnen das Standard-Briefing des Hauptquartiers präsentiert hatte, durften Fragen gestellt werden. Eine Information hatte die Besucher irritiert. Der Vortragende, ein norwegischer Offizier, hatte den Besuchern die norwegische Verteidigungsorganisation als Bestandteil der NATO erklärt. Dazu gehörte, dass neben dem NATO-Hauptquartier in Stavanger noch ein zweites Hauptquartier in Nordnorwegen etabliert ist. Es diene besonders dazu, die „Nordflanke“ des Bündnisses zu schützen. Ein Journalist legte den Finger auf die Wunde. Er fragte: Wer ist denn der Feind, gegen den sie die Nordflanke der NATO schützen wollen? – Jedem der Anwesenden war die Peinlichkeit der Frage sofort bewusst. Der NATO-Commander, ein norwegischer Admiral, rettete die Situation, indem er das Wort nahm. Er sagte: Sie sehen, wie verhaftet wir Militärs im Denken von gestern sind. Bis vor Kurzem galt Russland als Bedrohung für NATO-Europa. Die hehren Ziele von Herrn Gorbatschow, Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung), gelten eben nicht nur für Russland, sondern genauso für uns. – Seine Worte bekamen spontan Beifall, nicht nur von den Besuchern, sondern auch von den anwesenden NATO-Offizieren. Um die Brisanz dieses kleinen Intermezzos zu verstehen, ist es wichtig, die vorangegangenen politischen Ereignisse zu kennen. Hier ist eine verkürzte Zusammenfassung. (Wikipedia)
Die Wende des ehemaligen Feindes
Durch die Weitsicht des damaligen Parteisekretärs der Sowjet Union, Michael Gorbatschow, kam es zu einem Umdenken in der russischen Führung. Er war Wegbereiter für ein neues europäisches Russland und beendete den Anspruch Russlands als Führer eines kommunistischen Weltreichs. Am 31. März 1991 erklärten die Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages, des kommunistische Militärbündnis unter der Führung der Sowjet Union, für aufgelöst. Vorausgegangen waren die sogenannten 2 plus 4 Gespräche zwischen der Bundesrepublik Deutschland (BRD), der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und den 4 Siegermächten des 2. Weltkriegs, USA, Sowjet Union, Großbritannien und Frankreich. Das Ergebnis war ein Vertrag, der am 12. September 1991 in Moskau unterzeichnet wurde. Er beinhaltete u.a. die Wiedervereinigung Deutschlands, der Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland und die Obergrenze der Truppenstärke eines vereinten Deutschland als Mitglied der NATO. Letzteres Zugeständnis hatte bei Beratern des damaligen russischen Außenministers Schewardnadse Unverständnis ausgelöst. Der argumentierte die sowjetische Konzilianz mit folgenden Worten.
„Wir sind außerstande, Deutschlands Vereinigung zu stoppen, es sei denn mit Gewalt. Doch das käme einer Katastrophe gleich. Wenn wir uns einer Beteiligung an diesem Prozess entziehen würden, so würden wir vieles einbüßen. Wir würden keine Grundlagen für das neue Verhältnis zu Deutschland schaffen und die gesamteuropäische Situation beeinträchtigen.“
Auf der Suche nach einem neuen Feind
Die Entwicklung der gesamteuropäischen Situation hat, wie wir heute wissen, einen tragischen Verlauf genommen. Eine Ursache ist die Beibehaltung der NATO als ein Militärbündnis, das eben nicht europäischen, sondern vornehmlichen amerikanischen Interessen diente. Die Einführung des „Out of Area“ Konzepts der USA in die NATO 1993 ist schlagender Beweis dafür. Das militärische Engagement von NATO-Ländern außerhalb der Landesverteidigung – auf dem Balkan, in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien und in Afrika – diente vornehmlich geostrategischen Interessen der USA. Ob sie europäischen Interessen gedient haben, muss man bezweifeln. Das Echo war und sind Flüchtlingswellen nach Europa und Terroranschläge. Die lassen sich nicht durch militärische Stärke verhindern, sondern nur durch eine weise Außenpolitik. An der hat es bei der großen Wende in Europa nach 1991 gefehlt. Die Beibehaltung der NATO nach der großen Veränderung in Russland, insbesondere nach der Auflösung des Warschauer Paktes, war in diesem Sinne nicht im Interesse Europas. Wie wäre die Entwicklung gelaufen, wenn die NATO sich als militärisches Verteidigungsbündnis gegen Russland aufgelöst hätte?
Was hätte sein können
Man hätte sich unter den europäischen Staaten (einschließlich Russland) auf eine nationale Militärstruktur einigen können, die Angriffswaffen wie Panzer, Bomber und Raketen ausschließt. Man hätte supra-nationale europäische Verbände (einschließlich Russland) aufstellen können, die regelmäßig gemeinsam üben, um im Auftrag der UN zu Friedensmissionen eingesetzt werden. Man hätte den Europäischen Rat um Russland erweitern können und diesem die Autorität übertragen, über militärische Einsätze europäischer Truppen zu entscheiden. Die USA hätten in diesem Rat Beobachter, Ratgeber und Unterstützer sein können, wenn es um Fähigkeiten geht, die die Europäer nicht haben. Europa muss nicht das Rad neu erfinden, wenn ein guter Freund mit seinen Möglichkeiten helfen kann. Die viel beschworene Atlantische Gemeinschaft hätte sich nicht mehr geopolitisch verstanden, sondern als Kulturgemeinschaft, in der Geschichte, Identität und Werte die Klammer ist und nicht irgendwelche nationale „vitale“ Interessen. Ein solches Europa hätte als Blaupause für die Charta der Vereinten Nationen dienen können, so wie sie 1945 unter der Ägide der USA aufgeschrieben wurde.
Frieden durch Umarmung
Das Argument „Werte“ wird heute gerade gegenüber Russland benutzt, um wieder das „Trennende“ in den Vordergrund zu schieben. Dabei wird die Geschichte dieses Landes unterschlagen, die maßgeblich das Denken und Handeln seiner Führung bis heute bestimmt. Wenn wir Europäer Veränderung in dieser Richtung wünschen, dann geht das nicht über den Blick in die Mündung eines Gewehres, sondern nur durch Umarmung. Die europäische Familiengründung hat so funktioniert. Man hätte auf diese Weise Russland in die Familie holen können. Die NATO hat dies durch die Fortschreibung ihrer Existenz verhindert. Ein militärisches Bündnis braucht einen Feind, um seine Existenz zu begründen. – Wer weiß? – Hätte man damals mit der Auflösung des Warschauer Pakts die NATO ebenfalls abgeschafft und eine europäische Lösung, wie skizziert, für die militärische Sicherheit Europas angestrebt, Angst voreinander wäre heute Geschichte. Eine nachhaltige kulturelle und wirtschaftliche Annährung wäre möglich gewesen. Der Krieg in der Ukraine wäre nie passiert. [Ulrich Scholz, erstveröffentlicht auf Ulrichs Newsletter]