Warum Frieden im Ukrainekrieg so schwer ist
Ein Kompromiss ist zwei Niederlagen auf einmal… Elmar Kupke (1942 – 2018), deutscher Aphoristiker
Es wird nie mehr gelogen als vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd.“ – Dieser Ausspruch stammt nicht von Otto von Bismarck, wie öfter zu lesen ist, sondern von dem Wittener Abgeordneten Louis Berger, den er um 1879 im Parlament des Deutschen Kaiserreichs getan haben soll. Er hat bis heute Gültigkeit, wenn man die aktuelle Berichterstattung zum Ukrainekrieg verfolgt. Er gilt nicht nur für die russische Propaganda, sondern teilweise auch für die Darstellung der Geschehnisse vor und während des Krieges in unseren Medien. In Hinblick auf einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen bringt jedoch das Beharren auf die eigene Sichtweise nicht weiter, wie die bisher vergeblichen Versuche, zu Verhandlungen zu kommen, zeigen. Wie es nur gehen kann, zeigt der Algerienkrieg der Franzosen (1954-1962).
Der Krieg zwischen der französischen Armee und der algerischen Widerstandsbewegung F.L.N. war im 4. Jahr, als die kriegsmüden Franzosen ihren Kriegshelden von einst, Charles de Gaulle, zum Ministerpräsidenten wählten. In seiner berühmten Rede von Constantine stellte er seinen Plan zu mehr sozialer Gerechtigkeit in Algerien vor und rief den Menschen zu: Warum zerstören? Es ist unsere Pflicht aufzubauen. Warum hassen? Wir müssen zusammenarbeiten.
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, amnestierte De Gaulle in den folgenden Wochen tausende von gefangenen F.L.N. Kämpfern. Todesurteile wurden aufgehoben. In einer Pressekonferenz am 23. Oktober machte er sein berühmtes Friedensangebot an die Kämpfer der F.L.N., den Frieden der Mutigen (paix des braves):
Ich sage hier unmissverständlich, dass die meisten Männer des Aufstandes mutig gekämpft haben. Lasst endlich den Frieden der Mutigen zu, und ich bin sicher, dass aller Hass weichen und verschwinden wird. Was bedeutet das konkret? Es ist ganz einfach: Wo immer sie in Kampfeinheiten organisiert stehen, sollen ihre Vorgesetzten mit dem französischen Militärkommandos Kontakt aufnehmen. Die alte Kriegers Tradition, die von je her galt, um die Waffen zum Schweigen zu bringen, war, die weiße Fahne des Waffenstillstands zu schwenken. Und ich antworte darauf, dass dann alle Kämpfer ehrenhaft empfangen und behandelt werden. (auszugsweise Übersetzung aus Allistair Hornes Buch „A savage War of Peace“)
Paix des braves hatte De Gaulle sein Friedensangebot genannt. Es war nicht nur an die Rebellen gerichtet, sondern auch an seine eigenen Landsleute. Mut zum Frieden zu haben heißt nämlich zuallererst, altes Denken über Bord werfen. Während eines Krieges, in dem (von beiden Seiten!) gefoltert und Zivilbevölkerung mit Napalm bombardiert wurde, altes Denken aufzugeben, ist schier unmöglich, wie die folgenden Jahre bis zum Kriegsende 1962 zeigten. Die F.L.N. genauso wie die europäischen Bewohner Algeriens bekämpften seinen Plan mit noch mehr Terror. Es gab sogar einen Putschversuch französischer Generäle und einen Attentatsversuch durch einen französischen Offizier, der später vor Gericht gestellt und hingerichtet wurde. Am Ende erreichte de Gaulle, dass das französische Parlament der Unabhängigkeit Algeriens zustimmte, womit der Krieg endlich zu einem Ende kam. Er hatte ca. eine Millionen Menschen das Leben gekostet. Eine Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen gab es weder in Algerien noch in Frankreich. Im Abkommen von Evian 1962 zwischen der französischen Regierung und der provisorischen Regierung Algeriens einigte man sich u.a. auf Straffreiheit für alle Kombattanten. Was blieb, war die historische und gesellschaftliche Aufarbeitung in beiden Ländern, und die kann nur in der Selbstbetrachtung nachhaltig sein. – Wie die Zeiten sich geändert haben.
Im Ukrainekrieg (wie in allen Kriegen nach 1990, die von westlichen Nationen geführt wurden) gibt es den Bösen und die Guten. Unbenommen der geopolitischen Interessen der Amerikaner und der Bündnistreue der Europäer beteuert man immer wieder den Anspruch, Moral und Recht zu verteidigen. In diesem Sinne unterstützt man die Ukraine nicht nur, ihren Verteidigungskrieg zu führen, sondern besteht sogar auf die Fortführung des Krieges, sollten der eigenen Anspruch nicht erfüllt werden. Man verhindert damit eine Verhandlungslösung, die Tausenden von ukrainischen und russischen Soldaten den Opfertod ersparen könnte. Der Hass, der sich schon jetzt in beiden Völkern angestaut hat, wird weiter angefacht. Frieden und Versöhnung rücken noch weiter in die Ferne. Egal, wer diesen Waffengang „gewinnt“, der Grundstein für den nächsten Krieg wird damit gelegt.
Wenn der Westen es mit seinen Werten der Humanität ernst meint, muss er jetzt verhandeln, und zwar bedingungslos. Für solche Verhandlungen eine NATO-Streitmacht als Sicherheitsgarantie für die Ukraine im Land vorzusehen, ist absurd. Sie würde de facto einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine gleichkommen. Genau die wollte Herr Putin doch verhindern, als er seine Armee in die Ukraine einmarschieren ließ. Wenn Soldaten in die Ukraine geschickt werden sollen, um den Frieden zu sichern, dann können es nur Blauhelme der UNO sein. Sie sollten in festgelegten entmilitarisierten Regionen stationiert werden, um die Armeen der Kriegsparteien voneinander zu trennen. Die dürfen auf keinen Fall aus NATO-Staaten kommen. Um die Führungspersonen der Ukraine und Russland dafür zu gewinnen, gilt es vorher, bei ihnen die Einsicht zu wecken, dass nur ein Kompromiss ihren Interessen am ehesten dient. Dazu bräuchte man jetzt Mediatoren, die beide Seiten als vertrauenswürdig erachten. Sie könnten den Kontrahenten klar machen, dass ein Kompromiss keine Niederlage ist, wenn man die Zukunft ihrer Völker an die erste Stelle stellt, wie Charles de Gaulle es getan hat. Bleibt abzuwarten, ob die beteiligten Führungspersonen solch staatsmännische Qualitäten haben, wie der französische Ministerpräsident im Algerienkrieg. Für die Ukraine, Russland und Europa wäre es zu wünschen. [Ulrich Scholz, erstveröffentlicht auf Ulrichs Newsletter]