Krankheit ist die gesunde Reaktion, an der Norm zu zweifeln – Adolf Muschg, Schweizer Schriftsteller und Dichter

Prolog

„Das macht Sinn“ und „das macht keinen Sinn“, wie oft hören wir diese beide Sätze und benutzen sie auch immer wieder selbst. Eigentlich müssten wir sie jedes Mal ergänzen mit „für mich“. Ansonsten würden wir nämlich für 8,1 Milliarden Menschen sprechen. Diese scheinbare Semantik kann sehr schwer wiegen, wenn dahinter dogmatische Einstellungen stehen, die mit Macht verbunden sind. Sie machen nämlich jede Kritik an Aussagen und Handlungen, die auf diese Weise als alternativlos alimentiert werden sollen, mundtot und führen allzu oft zur Diffamierung des Andersdenkenden. Als Beispiele seien die Auseinandersetzungen um die Corona-Politik genannt oder um die Frage, ob die Unterstützung von Krieg in der Ukraine und im Palästina-Konflikt legitim sei. Diese scheinbar abgehobenen Beispiele für die Sinnfrage – abgehoben deswegen, weil sie im politischen gestellt werden – haben meines Erachtens nach einen direkten Bezug zu der Sinnfrage, vor die jeder einzelne immer wieder persönlich steht. Sie stellt sich meistens unbewusst und findet gleichzeitig in verschiedenen Sphären statt, die unzertrennbar miteinander verbunden sind. Das gilt für alle Menschen in der Gesellschaft, insbesondere für unsere Kinder. Über mangelnde Sinnfindung bei Kindern habe ich in meinem Buch „Menschenführung“ geschrieben und folgendes Modell benutzt.

Modell Sinn

Es ist eine Binsenweisheit, dass Sinn nicht von außen kommt, sondern jeder Mensch für seine Sinngebung zuständig ist. Die offenbart sich in drei miteinander verbundenen Phänomenen. Erstens, in der Dominanz des Dinglichen in unserem Leben. Dazu gehört ein unbeirrbarer Glaube an die Wissenschaften und an die Wahrheit der Zahlen. Die lügen bekanntlich nicht. Zweitens, in dem wenig ausgeprägten Misstrauen gegenüber dogmatischem Denken. Richtig und Falsch gibt es nur in der Mathematik. Alles andere ist Ansichtssache. Und Drittens, im fehlenden Glauben an eine transzendentale Kraft, die jedem Menschen innewohnt und die ihn über sich hinauswachsen lässt. –

Das Modell soll dazu dienen, die sinngebenden Sphären deutlich zu machen und noch mehr, auf deren Schieflage in unserer Gesellschaft hinzuweisen, in der ich die Hauptursache für unmenschliche Entscheidungen sehe. Das sind solche, die die Würde des Menschen verletzen, indem sie ihn verdinglichen und damit krank machen und im schlimmsten Fall umbringen (Stichworte: Human Resources, Burnouts, innere Kündigung, verhaltensauffällige Kinder und Erwachsene, Krieg als Mittel der Politik u.a.).

Intelligenz ohne Zweifel ist dumm

Befürworter und Gegner in einem Interessenkonflikt argumentieren mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Beide Seiten führen Statistiken ins Feld. Sie sind Zahlen-Modelle, die suggerieren sollen, dass sie ein Abbild der Realität sind. Im Bereich der Technik ist das realitätsgetreue Anfertigen von Modellen statthaft und nützlich. Maschinen wie Flugzeuge sind komplexe Systeme. Komponenten und deren Zusammenwirken sind bekannt. Ein realitätsechter Nachbau im Modell ist möglich und aus unterschiedlichsten Gründen wünschenswert. Der Nachbau menschlicher Intelligenz mit dem Anspruch auf deren Perfektionierung (Stichwort: Künstliche Intelligenz) muss wegen der Kompliziertheit des Menschen als biologisches, fühlendes, denkendes und spirituelles Lebewesen bezweifelt werden. Was ihr fehlt, ist die Geisteshaltung des Zweifelns. Die sollte man nicht noch so versierten Programmierern überlassen. Täte man es, wäre der Manipulation Tür und Tor geöffnet.

Beide Phänomene, die Verdinglichung alles Menschlichen und Geist ohne den Zweifel, würden nicht nur jede menschliche Lösung von Aufgaben und Konflikten verhindern, sondern letztlich auch Sinngebung zu einem erfüllten Leben unmöglich machen. Die Lösung sehe ich in der Hinwendung zum dritten Phänomen. Es ist die Erkenntnis, dass der Mensch mehr ist als ein biologisches Wesen mit einem intelligenten Hirn. Was das Mehr ist, entzieht sich jeder wissenschaftlichen Betrachtung und entfaltet dennoch eine Kraft, die Angst nehmen kann, Mut macht und gerade in der Not Menschen über alle Differenzen zusammenbringt.

Die größte Kraft im Universum

Vor einigen Jahren hatte ich auf einer Autobahnraststätte ein bemerkenswertes Erlebnis. Ich hatte gerade eingeparkt, als aus dem Auto neben mir ein Mann und eine Frau gesetzten Alters ausstiegen. Anstatt in Richtung Eingang zu gehen, trafen sie sich vor der Motorhaube und nahmen sich in den Arm. Für einige Sekunden sahen sie sich wortlos in die Augen. Dann fasten sie sich bei der Hand und gingen in die Raststätte. Ein anderes Paar, dass sich anschickte, in ihren Wagen zu steigen, hatte die Szene ebenfalls mitbekommen. Die Frau sagte: „Schau mal, ist das nicht wunderbar?!“ Der Mann brummelte so etwas wie: „Muss Liebe schön sein“. Dann stiegen sie ein und fuhren davon. Die Frau wie der Mann hatten mir aus der Seele gesprochen.

Ich bin überzeugt davon, dass zum Menschsein die Sphäre der Seele gehört und dass sie der Ursprung dessen ist, was wir Liebe nennen. Ihre Existenz ist weder messbar noch wissenschaftlich nachweisbar. Man kann das Wirken ihrer universellen Kraft nur erfahren. Es ist unerheblich, aus welcher Quelle ein Mensch diese Kraft schöpft, ob über die persönliche Erfahrung des Lieben und geliebt Werdens oder über den Glauben an Gott oder über spirituelle Naturverbundenheit oder über leuchtende Persönlichkeiten der Geschichte wie Gandhi oder Martin Luther King. Wichtig allein ist, dass Menschen, besonders in Notzeiten, wieder lernen, auf diese Kraft zu vertrauen. Das bedeutet, über alle Lager-Mentalität hinweg den anderen mit Achtsamkeit begegnen, dessen Ängste ernst nehmen und vor allem ihn bildlich und wörtlich in den Arm nehmen. In einer solchen Solidarität wären Infrage stellen und Diskurs möglich, die zu einem gesunden Weg aus jeder Krise führen könnten. „Wer nicht liebt, der lebt nicht“, schrieb der US-amerikanische Professor der Pädagogik, Leonardo Buscaglia, in seinem Buch „Liebe“. Ich möchte ergänzen, der wird krank. So gesehen ist die Einbeziehung der größten Kraft im Universum in sein Leben der beste Schutz vor Krankheit. Sie würde nämlich den Geist dazu bringen, die krank machende Dominanz des Dinglichen zu beenden. Die Sphären der Sinngebung wären in Harmonie. Oder wie der griechische Philosoph Aristoteles sinngemäß gesagt hat: Glücklich ist der, der in Allem sein eigenes Maß findet. [Ulrich Scholz/erstveröffentlicht auf Ulrichs Newsletter]