Wer Andere anzünden will, der muss selbst brennen. – Augustinus

Der erste Tag im Stabsoffizierslehrgang an der Führungsakademie der Bundeswehr war Begrüßungstag. Nach der Willkommensrede durch den Akademie-Kommandeur traf man sich mit seinem Hörsaalleiter im Unterrichtsraum des Hörsaals. Der Hörsaalleiter, im Dienstgrad Oberstleutnant, war gleichzeitig der Dozent für Führung und Management und der beurteilende Vorgesetzte für 15 angehende Stabsoffiziere von Heer, Luftwaffe und Marine. Für mich war es die letzte Verwendung vor meiner Pensionierung. In der ersten Unterrichtsstunde werden normalerweise eine Vorstellungsrunde durchgeführt sowie Inhalte und Ablauf des Lehrgangs vorgestellt. Auch formale Regeln, wie Anzugsordnung, Grußpflicht und Hörsaaldienste, werden angesprochen. Wir sind ja schließlich beim Militär. Wie dem auch sei, mein Anfang sah anders aus.

Nachdem jeder Platz genommen hatte, startete ich einen YouTube-Clip. „Meditation“ aus der Oper Thais von Jules Massenet, gespielt von der französischen Geigerin Marina Chiche. Als der Clip zu Ende war, fragte ich sie, was sie in den letzten 5 Minuten gedacht haben. Die meisten waren verunsichert und hatten sich gefragt: Warum spielt er uns das vor? – Ein Offizier der Marine (U-Boot Kommandant) traute sich. Er meinte: Die Musik ist sehr schön und die Geigerin hübsch. Ich genieß das jetzt Mal. Ich nahm die Vorlage an und fragte nach Gefühlen. Sie ließen sich darauf ein und begannen sogar, von eigenen Gefühlen auf die Handlung der Oper zu schließen. Unglückliche Liebe, Trennung, Traurigkeit, Verzweiflung. Ich habe ihnen die Handlung kurz erzählt. Es war für sie ein Erfolgserlebnis der etwas anderen Art. Sie waren auf den Lehrgang gekommen, um Leistung zu zeigen. Und nun hatten sie sich gleich am ersten Tag mit Gefühlen beschäftigt. Die Tragik der Thais-Geschichte fand dann doch noch ein lustiges Happy End. Jemand fragte, ob „Gefühle“ prüfungsrelevant sei. Das entscheiden Sie, bekamen sie zur Antwort. Der Verlauf des Lehrganges und das Ergebnis zeigten, dass sie verstanden hatten.

Alle hatten bestanden. Im Notenschnitt war der Hörsaal sogar einer der besten von insgesamt neun. Das mag Zufall gewesen sein. Natürlich waren alle extrinsisch motiviert gewesen. Eine gute Note sicherte die Teilnahme am Generalstabslehrgang und eine förderliche Anschlussverwendung auf einem A13 Dienstposten (Major/Korvettenkapitän). Was sie in 13 Wochen Pauken und Prüfungen getragen hatte, war nicht so sehr der Ehrgeiz, sondern das tägliche Arbeiten und Leben in der Gemeinschaft. Man hielt zusammen. Stärkere arbeiteten die Lernunterlagen auf und halfen damit den Schwächeren zu verstehen und zu behalten. Vor Allem aber sorgte man sich um das Wohlergehen des anderen, im dienstlichen wie im privaten. „Wie geht es Dir?“ war keine Floskel, sondern eine ernst gemeinte Frage. Ich weiß es, weil ich sie als ihr Hörsaalleiter in Unterrichten und beim Selbststudium nach Dienst begleitet habe. Als pflichtgemäßer Beobachter brauchte ich nicht zu führen. Sie führten sich selbst. – Das Zulassen von Gefühlen und diese in einer verkopften Welt das Handeln bestimmen lassen, hatten es möglich gemacht. Nach über 35 Jahren Menschführung in den Streitkräften besteht für mich kein Zweifel. Wenn ich Soldaten bewegen will, geht es nur über das Gefühl. Motivation, Einsatz und Leistung folgen. Dasselbe gilt im Übrigen auch für Kinder. Ich habe es in den letzten 10 Jahren als Vertretungslehrer an Gymnasien und Gesamtschulen ausprobiert. Die Geschichte des ersten Mal möchte ich Ihnen stellvertretend für die vielen Male danach im Folgenden erzählen.

Ich war für die Mittelstufe eines Gymnasiums als Geografie-Lehrer engagiert worden. Mein erster Unterricht war gleich morgens um 08.00 Uhr. Wegen der Vorbereitung des Unterrichtsraums war ich schon eine halbe Stunde eher gekommen. Die eintrudelnden Schüler nahmen mich mit versteckter Neugier wahr. Einige begannen, mich auszufragen. Ob ich der „Kampfpilot“ sei, der bei ihnen jetzt Geografie unterrichten wird. Meine Ankunft als Vertretungslehrer hatte in der Schule inzwischen die Runde gemacht. Ich begann die Unterrichtsstunde mit einem YouTube Clip, was die Klasse in ein gespanntes Schweigen versetzte. Zu dem Song „Bring me to life“ von Evanescence , rollten Kampfflugzeuge der Schweizer Luftwaffe auf die Startbahn, um sich zu einem faszinierenden Flugspektakel in den Schweizer Alpen in die Lüfte zu schwingen. Als nach 4 Minuten der Clip zu Ende war, habe ich die Selbstvorstellung mit ein paar Worten abgeschlossen. Über 20 Jahre habe ich solche Flugzeuge geflogen. Es war mein Traumberuf gewesen. Ich machte aber auch keinen Hehl daraus, dass ich Kampfjets inzwischen für überflüssig halte. Zu teuer und zum Frieden machen ungeeignet. Trotzdem wollte ich die Schüler an meiner vergangenen Welt ein bisschen teilhaben lassen und schlug ihnen vor, dass sie während des Schulhalbjahres ein Briefing halten sollten. Dauer 10 Minuten. Jeden Tag ist ein anderer dran. Das Geografie-Thema konnten sie sich aussuchen. Bedingung war, dass sie ein Alltagsthema vorstellen und damit zum Geografie-Thema überleiten. Ich habe ihnen ein Beispiel vorgeführt.

Der Kabinenroller des Prof. Messerschmitt aus den 1950er Jahren. Ein Motorroller, in dem zwei Personen hintereinander unter einem Kabinendach saßen. Danach zeigte ich ihnen Bilder von der Me109 und der Me 262, Jagdflugzeuge der deutschen Luftwaffe, die Prof. Messerschmitt im 2. Weltkrieg entwickelt hatte. Die Me 109 war Propeller-getrieben, die Me262 hatte zwei Düsen-Triebwerke. Nachdem ich ihnen kurz die Funktionsweisen des Jet- und des Propellerantriebs erklärt hatte, habe ich zum Geografie-Thema übergeleitet und ihnen die Troposphäre vorgestellt. Das ist die Luftschicht über der Erde, in der das Wetter stattfindet und an deren Obergrenze in ca. 10 000 Meter (der Tropopause) wegen der kalten Temperaturen und des geringen Luftdrucks Jetflugzeuge sehr effektiv (hohe Geschwindigkeit) und effizient (wenig Treibstoffverbrauch) operieren können. Ende des Briefings.

Die Umsetzung der „Morning-Briefings“ zeigte, dass die Schüler verstanden hatten. Insbesondere bei der Auswahl der Themen und deren Verknüpfung zeigten sie große Kreativität. Ein Schüler brachte seinen Fußball von Adidas mit. Alle Fußbälle, auch die bei großen Turnieren, werden von Adidas gestellt. Er erzählte etwas über die Firmengründer, die Brüder Adidas, die neben ihren Sportartikeln während des 2. Weltkrieges auch eine Panzerfaust entwickelt hatten. Sein Geografie-Thema war das Ausrichtungsland der Fußball-WM, Brasilien. Eine Schülerin brachte ihre Zahnbürste mit und fragte die Klasse, aus welchem Material diese hergestellt ist. Aus der Antwort – Erdöl – leitete sie auf einer Weltkarte zu den Erdöl fördernden Ländern über. Ferien bei den geliebten Großeltern führten zu einer Vorstellung der Ostseehalbinsel Darß. Jedes Morning-Briefing wurde mit Spannung erwartet. Wenn einmal jemand nicht vorbereitet war, der eigentlich dran war, haben wir verschoben. Ängste vor einer schlechten Note waren in den Briefing-Regeln nicht vorgesehen. Natürlich gab es Noten. Die Schüler selbst haben den Briefer benotet. Grundlage war, was gut gefallen hatte. Der Rest wurde unter „etwas gelernt“ verbucht. Der Leiter der Schule bemerkte einmal zu mir, dass ich zu gute Noten gäbe. Ich habe widersprochen. Wer so motiviert fleißig ist und Leistung bringt, wie meine Geografie-Schüler, der verdient nur die besten Noten. Was sie tatsächlich bewegt hat, sich in den Geografie-Unterricht so einzubringen, wie sie es getan hatten, weiß ich nicht. Ich bin überzeugt davon, dass es etwas mit Gefühl zu tun hat. Die Frage einer Schülerin, die sie mir zum Ende des Schuljahres gestellt hatte, lässt darauf schließen. Sie fragte mich:

Wenn man jeden Tag solche Flugzeuge geflogen ist, wie kann man es sich antun, jeden Tag als Lehrer seine Zeit mit schrecklichen Kindern zu verbringen? [Ulrich Scholz/erstveröffentlicht auf Ulrichs Newesletter]