Nothing´s gonna change my world (Nichts wird meine Welt verändern)
Aus dem Geschichtsunterricht einer 10. Klasse Gymnasium
Das Thema war der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts. Als „Attentiongetter“ hatte ich ihnen einen Musikclip vorgespielt. „Across the Universe“, ein Beatles Song gecovered von der US-amerikanischen Sängerin Fiona Apple. Am Ende hatte ich die die Schüler nach ihren Wahrnehmungen befragt und ob sie ihnen Bedeutungen geben könnten. Sie konnten. Das Eindringen einer Gruppe von Männern in ein Café, das sie mit Baseballschlägern sinnlos zerstörten, interpretierten sie als Gewalt. Ein Schüler setzte sie in Bezug zum Geschichtsthema und meinte, sie könnte für Krieg stehen. Bei meiner Frage, welcher Krieg, half ich nach. Ich erzählte ihnen von den Beatles, die in ihren Liedern immer wieder gegen den amerikanischen Vietnamkrieg gesungen hatten. Der Krieg sagte den Schülern nichts. Also habe ich ihnen seine Geschichte erzählt. Zuvor habe ich in Aussicht gestellt, den Film „Across the Universe“ (2007), der vom Vietnamkrieg handelt, über weitere Musikclips vorzustellen. Das kam an. Clips anschauen ist immer noch besser als in Geschichtsbüchern lesen.
Mit Unterstützung von Karten und Bildern erzählte ich ihnen von der gewaltsamen Übernahme des Landes durch Frankreich im Jahr 1858. Bis 1945 wurden Vietnam und die Nachbarländer Kambodscha und Laos von den Kolonialherren ausgeraubt und deren Bevölkerungen brutal unterdrückt. Erst nach einem blutigen Befreiungskrieg (1. Indochinakrieg) gelang es der vietnamesischen Befreiungsorganisation Viet Minh, die Franzosen aus dem Land zu treiben. In der Schlacht von Dien bien Phu (1954) fügten sie ihnen die letzte, vernichtende Niederlage zu. 10 Jahre später begann der 2. Indochinakrieg (Vietnamkrieg). Dieses Mal waren die USA der Eindringling. Er endete 1973 mit dem Abzug der Amerikaner. Sie hatten 8 000 000 Tonnen Bomben auf das Land geworfen, viermal so viel, wie im gesamten 2. Weltkrieg. Über 4 000 000 Menschen waren umgekommen, davon waren 2 000 000 vietnamesische Zivilisten und 58 000 Amerikaner (Die Zahlen variieren je nach Quelle)
Verloren wurde der Krieg an der Heimatfront. Die Medien brachten ihn Abend für Abend in die Wohnzimmer der amerikanischen Bevölkerung. Der Anblick von NAPALM verbrannten Kindern und toten und verwundeten eigenen Soldaten führten in den USA zu einer noch nie da gewesenen Anti-Kriegsbewegung. Vor allem junge Leute gingen auf die Straße. Ihre moralischen Vorbilder waren Sänger wie Bob Dylan und Joan Baez. Auch die Beatles, deren Titel zwischen 1960 und 1970 die Hitparaden beherrschten, komponierten und texteten unter dem Einfluss des Vietnamkrieges. Ihre Musik zusammen mit entsprechenden Handlungsszenen aus dem Film „Across the Universe“ wollte ich nun nutzen, um der Klasse zu zeigen, wie heftig die Auswirkungen dieses Krieges (Schrecken, Verlust, Trauer, Protest und Gewalt) das normale Leben von jungen Menschen in einer demokratischen Gesellschaft beeinflusst hat.
Als ich den Clip zum letzten Song (Let it be) gezeigt hatte, fragte ich die Schüler nach ihrem Eindruck. Sie schauten mich ratlos an. Dann meinte eine Schülerin: Unterhaltsam. – Ich war sprachlos. Spontan startete ich den eingangs gespielten Clip noch einmal. „Nothing´s gonna change my world“ singt Fiona Apple den Refrain immer wieder und schaut dabei teilnahmslos mit Kopfhörern auf den Ohren in die Kamera, während im Hintergrund das Café kurz und klein geschlagen wird. Die Schüler nahmen die totale Ignoranz der Frau wahr, konnten sie aber nicht lesen.
Ich fragte sie: Wer verfolgt täglich in seinem Handy die Nachrichten? Einer meldete sich. Ich fragte weiter, nach den Kriegen in Afghanistan, im Irak und im Nahen Osten. – An welche Länder verkauft Deutschland Kriegsgerät? – Jetzt verstanden sie die Metapher des Clips. Es kam der obligatorische Fluchtversuch. Man kann ja doch nichts ändern. Die Antwort kam aus ihren Reihen. Das haben die jungen Leute in der Anti-Vietnamkrieg Bewegung nicht so gesehen. – Die Pausenklingel kam genau zur richtigen Zeit. Die Störung in ihren Denkmustern wollte ich nicht zerreden. Eine letzte Frage hatten sie noch. „Was müssen wir über den Vietnamkrieg für die Klausur wissen?“ – Da hatte ich sie neugierig gemacht, Betroffenheit erzeugt und zum Denken gebracht … dachte ich. Meine Erfahrung/Befürchtung schien wieder einmal bestätigt worden zu sein. Sie lernen für den Moment des gemessenen Werdens, für die Note. Die Welt da draußen interessiert sie nicht wirklich. Nothing´s gonna change their world.
Die geschilderte Unterrichtsstunde liegt schon ein paar Jahre zurück. Hat sich zu heute etwas geändert? – Ja, aber nicht zum Besseren, ist zu befürchten. Die Regierenden haben dazu gelernt. Wenn man einen „Bösen“ erschafft und die Schrecken des Krieges von den Menschen fernhält, kann man junge Menschen von der Straße fernhalten. Der Ukrainekrieg und Aufrüstung werden von vielen als notwendig begrüßt. Nothing´s gonna change their world.
Die erste Aufklärung hatte den Menschen vom Erklärungsdogma der Kirche befreit. Vielleicht ist es Zeit für eine zweite Aufklärung, die den Menschen vom Erklärungsdogma der Herrschenden befreit. Wenn Moral und Recht proklamiert und gleichzeitig die Humanität mit Füßen getreten werden, dann wird es Zeit, dass die jungen auf die Straße gehen. In diesem Sinne sind die Worte von Robert Kennedy zeitlos. In einer Rede an seiner Alma Mater, die er 1968 auf der Höhe des Vietnamkrieges, drei Monate vor seiner Ermordung, gehalten hat, rief der den Studenten zu:
„If our colleges and universities do not breed men who riot, who rebel, who attack life with all the youthful vision and vigor, then there is something wrong with our colleges. The more riots that come out of our college campuses, the better the world for tomorrow.“
Übersetzung:
Wenn unsere Hochschulen und Universitäten nicht Menschen hervorbringen, die gewaltsam protestieren und rebellieren, die das Leben mit all ihrer jugendlichen Visionen und Ungestümtheit angehen, dann läuft etwas falsch an unseren Bildungseinrichtungen. Je mehr unsere Hochschul-Campusse gewaltsamen Protest hervorbringen, desto besser für die Welt von morgen. [Ulrich Scholz, erstveröffentlicht auf Ulrichs Newsletter]