Wohlig Gefühllos
Eine Kritik an der Leistungsgesellschaft von Pink Floyd
Künstliche Intelligenz ist im Moment in aller Munde. Kaum einer spricht von Emotionen und Gefühlen. Künstler tun es immer wieder. Darüber geht es in diesem Artikel. Damit Sie die folgende Geschichte verstehen, möchte ich mit zwei Definitionen beginnen.
- Emotionen sind physiologische und psychische Reaktionen auf äußere Reize, die in einem Menschen Betroffenheit auslösen.
- Gefühle sind das Ergebnis der Verarbeitung dieser Emotionen. Es ist ein Denkprozess, in dem Emotionen bewertet werden. Wie dieser ausfällt, hat etwas mit den eigenen Lebenserfahrungen zu tun und nicht zuletzt mit der Kultur, in der gefühlt und gedacht wird.
Ein klassisches Beispiel für dieses Wechselspiel sind Rockkonzerte. In der Gemeinschaft mit vielen erlebt man bei Jubel und Tanzen die körperliche Nähe mit Gleichgesinnten, sieht seine Lieblingsbands leibhaftig und wird von ihrer Musik akustisch und von ihrer Show visuell mitgerissen. Als Reizverstärker spielen sicherlich auch Alkohol und andere Drogen eine Rolle. Die Glücksgefühle, die diese Emotionen auslösen, sind ein Grund dafür, warum Rockkonzerte gerade bei jungen Menschen so beliebt sind. Man kann für einen Moment aus seinem Alltag aussteigen, der von Pflichten und immer wieder auch von Sorgen, Frustrationen und Ängsten bestimmt wird. Dass die Stars, die ihnen Glücksgefühle verschaffen, auch Opfer dieser Leistungs-Kultur sind, wird kaum wahrgenommen. Die Medien berichten darüber, wenn einer auf der Strecke geblieben ist. Als Beispiele seien Amy Winehouse, Curt Cobain und Whitney Houston genannt. Man erklärt einer entsetzten und trauernden Fan-Gemeinde, dass persönliche Probleme Ursache für den Suizid gewesen seien. Kaum jemand sieht, dass Künstler und Fans in einem Boot sitzen, das da heißt „Leistungsgesellschaft“. Sie ist nicht nur Ursache für das Leiden vieler Menschen und bringt sogar manche um, sondern scheint auch die Fähigkeit zum Fühlen verkümmern zu lassen. Diese scheinbar gewagte Feststellung ist nicht nur meinen Erfahrungen als Vertretungslehrer an Gymnasien und Gesamtschulen geschuldet, sondern begegnet einem auch in den sozialen Netzwerken, wie am folgenden Beispiel deutlich werden soll.
Seit einigen Jahren gibt es auf YouTube eine Serie, in der junge Menschen, zumeist in den USA, Pop-Musik ihrer Eltern und Großeltern vorstellen. Sie läuft unter dem Begriff „Reactions“. Ihnen zumeist unbekannte Songs und Interpreten werden vorgestellt bei gleichzeitiger Einblendung ihrer Reaktionen und Kommentare. Jeder dieser „Reactions“ ist ein Schaufenster für Emotionen und Gefühle. Beeindruckend ist die Begeisterung, die solche Oldies bei den jungen Moderatoren auslösen. Bezeichnend ist aber auch die Oberflächlichkeit und Hilflosigkeit, mit der sie Emotionen, die Interpreten, Musik und Texte auslösen, mit eigenen Gefühlen zu beschreiben versuchen. Das hat u.a. zur Folge, dass sie die Gefühle, die die Interpreten herüberbringen wollen, zwar empathisch aufnehmen, sie aber die Botschaft dahinter oft nicht sehen. Im Folgenden möchte ich Ihnen eine solche „Reaction“ vorstellen.
Eine junge Frau präsentiert aus einem Live-Konzert von Pink Floyd aus 1994 den Song „Comfortably Numb“. Bevor Sie weiterlesen, sollten Sie sich den Clip anschauen. Er erklärt nicht nur meine bisher gemachten Ausführungen, sondern ist in jeder Hinsicht ein akustischer, visueller und künstlerischer Genuss.
„Comfortably Numb“ bedeutet so viel wie „wohlig gefühllos“. Der Text handelt von einem Bandmitglied, das ausgebrannt ist und sich unfähig fühlt, aufzutreten.
Die Hintergrundstimmen sind die Stimme des Arztes, der den Leidenden nach seinen Schmerzen befragt und ihm rät, Medikamente einzunehmen, die ihn wieder fit machen sollen. Gesang und Musik der Hintergrundstimmen sind sphärisch und beschwörend gehalten, was durch Lichteffekte unterstützt wird.
Der Solo-Sänger antwortet als Betroffener. Sein Gesang ist klar und weich, was durch sein Gitarrenspiel und ebenfalls durch Lichteffekte unterstützt wird. Er beschreibt seine Schmerzen, die diffus sind. Jeder seiner Passagen endet mit dem Satz „I feel comfortably numb“. Seine wahren Gefühle kann er nicht mit Worten ausdrücken. Sein Gitarrenspiel kann es. In einem beeindruckenden Solo lässt er sie weinen, schreien und flehen. Das Lichterspiel unterstützt die Gefühlswellen. Der abschließende fulminante Accord lässt offen, wie es ausgehen wird.
Das Gitarrensolo hatte die junge Frau emotional aufgewühlt. Sie hatte in der Geschichte des Songs eine eigene Erfahrung mit psychischer Krankheit wiedererkannt. Ihre Gefühle, die sie zum Ausdruck brachte, beschränkten sich auf den Dialog zwischen dem Leidenden und dem Arzt und der erleichternden Feststellung, dass, wenn man einmal psychisch am Ende ist, man auf Arzt und Medikamente vertrauen sollte. Gesang, Text, Musik und Lichteffekte vermochte sie nicht, in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Das einzige Gefühl dazu äußerte sie immer wieder in einem hilflosem „Wow!“
„Wow“ war in allen „Reactions“, die ich mir zu dem Pink Floyd angeschaut habe, der vorherrschende Gefühlsausdruck. Keiner der jungen Moderatoren war in der Lage, in der Meta-Ebene zu fühlen und zu denken. Hätten sie es getan, wären sie vielleicht darauf gekommen, dass das leidende Bandmitglied jeder einzelne von ihnen sein könnte. Was mich optimistisch gestimmt hat war, dass alle ohne Ausnahme im Gefühl bewegt wurden, als sie die Darbietung ansahen. Eine alte Weisheit hatte sich wieder bestätigt. Gefühle bewegen Menschen und nicht der Verstand. Vielleicht sollten wir Gefühlen mehr Aufmerksamkeit schenken als irgendeiner künstlichen Intelligenz. [Ulrich Scholz, erstveröffentlicht auf Ulrichs Newsletter]