Der wegen seiner Rechtslastigkeit als Verfassungsschutzpräsident geschasste Hans-Georg Maaßen wanzte sich zunächst bei der AFD an, wurde aber jetzt von der CDU in Thüringen zum Bundestagskandidaten gekürt und gilt dadurch plötzlich wieder als seriös. Die Ems-Zeitung berichtete über seine Forderung, die Verhältniswahl abzuschaffen. Es passt zu diesem Mann, die Demokratie nicht mehr nur wie in der Vergangenheit durch seine Amtsführung zu beschädigen, sondern sich jetzt mit der Hoffnung auf ein politisches Amt direkt die Teilabschaffung der Demokratie vorzunehmen.

Hans-Georg Maaßen, der als Präsident des Bundesverfassungsschutzes regelmäßig vertrauliche Daten an die National Security Agency (NSA), den größten Auslandsgeheimdienst der Vereinigten Staaten, lieferte,
der versuchte 2015 kritische Berichte über den Verfassungsschutz zu verhindern, in dem er gegen die Journalisten von netzpolitik.org Strafanzeige wegen Landesverrats stellte,
der den Whistleblower Edward Snowden als Verräter bezeichnete,
der das Parlament belog und leugnete, dass im Umfeld des islamistischen Attentäters Anis Amri ein V-Mann aktiv war,
der als Verfassungsschutzpräsident den rechten Flügel der AFD regelmäßig traf und vermutlich Ratschläge gegeben hat, wie sich die AfD einer Beobachtung entziehen könne,
der 2012 verhindern wollte, dass ein Journalist und das Auschwitz-Komitee Einsicht in Unterlagen über den NS-Kriegsverbrecher Alois Brunner, der beim Verfassungsschutz angestellt war, bekommen,
der 2018 Videos über Hetzjagden auf Flüchtlinge in Chemnitz wider besseres Wissen als Fake bezeichnete und „linksradikale Kräfte in der SPD“ entdeckte,
der als Mitglied der rechtsradikalen „Werteunion“ im ungarischen Fernsehen gegen Flüchtlinge hetzte und
der den österreichischen Vizekanzler Strache, der sich in der Ibiza-Affäre in einem Video, in dem er sich als korrupt und gesetzesbrecherisch darstellte, verteidigte, indem er von „linke(n) und linksextreme(n) Aktivisten“ sprach, denen im ‚Kampf gegen rechts‘ jedes Mittel recht sei,
der sich also beruflich und privat als Kämpfer gegen Demokratie und Transparenz gezeigt hat, will die Demokratie verbessern. Zumindest laut einem Artikel in der heutigen Ems-Zeitung mit der Überschrift „Maaßen will Wahlrecht verändern“.

Konkret möchte er das Verhältniswahlrecht abschaffen und es durch ein Mehrheitswahlrecht ersetzen. Verhältniswahl bedeutet, dass jede Partei im Parlament so viele Sitze hat, wie es ihrem Stimmenanteil entspricht. Mehrheitswahlrecht bedeutet, in Wahlkreisen kommt jeweils der mit den meisten Stimmen ins Parlament. Vorbild für Maaßen sind damit die USA oder auch Großbritannien, wo die Parlamentsmehrheiten mit den in der Bevölkerung verbreiteten Meinungen nichts zu tun haben. Minderheiten oder auch Minderheitenmeinungen sind im Parlament überhaupt nicht vertreten. Letztlich hat es überall, wo es ein Mehrheitswahlrecht gibt, zu einem Zweiparteiensystem geführt, wobei die beiden Parteien sich immer mehr angleichen, aber in ihrer Propaganda so tun, als ob sie sich fundamental unterscheiden würden. Verbunden mit einem präsidialen System, entsteht so aus Wahlen eine Präsidialdiktatur, die sich demokratisch gibt, aber nur die Interessen der Elite vertritt (z. B. USA, Frankreich, Türkei, Russland, Brasilien).

Das Mehrheitswahlrecht dominierte in den westlichen Demokratien bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese Form der Wahl war sinnvoll, als es nur darum ging, ein Territorium zu vertreten, als zum Beispiel die Emsländer sich im 19. Jahrhundert von dem Zentrumsmann Ludwig Windthorst in Hannover und in Berlin vertreten fühlten. Es ging in der politischen Auseinandersetzung stark um die Rechte der Katholiken und von Minderheiten. Und davon fühlten sich alle Emsländer betroffen.

Mit der weiteren Entwicklung des Kapitalismus und der Entwicklung der Arbeiterbewegung ging es aber immer mehr um allgemein politische Fragen, um Sozialpolitik und um Klassenfragen. Die Arbeiterbewegung forderte, dass sie gleichermaßen an der Politik des Staates beteiligt werde und das bedeutete, dass sie die Verhältniswahl forderte. Denn es galt zu verhindern, was am 20. Februar 1890 bei den Wahlen zum 8. Deutschen Reichstag geschah. Bei dieser erhielten die Sozialdemokraten zum ersten Mal den höchsten Stimmenanteil. 19,7% der Deutschen wählten die SAP – Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Das entsprach fast 1,4 Millionen Stimmen. Trotzdem erhielt die Partei nur 35 von 397 Sitzen im Reichstag, was einem Anteil von 8,8% entspricht. Denn nur in 35 Wahlkreisen hatten ihre Vertreter die Stimmenmehrheit erhalten und sich gegen die Konkurrenten anderer Parteien durchsetzen können.

Erst nach dem Ende des Kaiserreiches und mit Beginn der demokratischen Weimarer Verfassung wurde das Verhältniswahlrecht eingeführt. Und erst seitdem sind die verschiedenen politischen Richtungen entsprechend ihrer Unterstützung bei den Wählern vertreten, wobei die 5%-Hürde eine Verfälschung darstellt, indem sie es neuen Bewegungen erschwert, sich im Parlament einzubringen.

Die Verhältniswahl hat sich besonders früh in Ländern mit unterschiedlichen ethnischen Gruppen durchgesetzt, wie der mehrsprachigen Schweiz, in Belgien oder in Finnland. Denn so konnten sich alle Bevölkerungsgruppen im Parlament wieder finden.

Maaßens Vorstoß für das Mehrheitswahlrecht ist also in jeder Weise undemokratisch, antiquiert und rückwärtsgewandt. Maaßen begründet seinen Vorstoß damit, dass Politiker Seilschaften bildeten und verhinderten, dass der Bessere sich durchsetze. Aber gerade bei der Mehrheitswahl gibt es im Vorlauf der Wahlen Absprachen zwischen den politischen Blöcken, um die Kandidaten durchzusetzen. Was sich hier als Sorge um die Demokratie maskiert, ist nichts anderes, als der Versuch, das Parlament als solches zu diskreditieren. Zur NS-Rhetorik gehörte das Bild von dem Parlament als „Schwatzbude“.

Was unsere Parlamente wirklich kaputt macht ist, dass durch die Verabredung zu Koalitionen der Minderheitenwille ausgeschlossen wird. Eine Minderheitsregierung sucht sich zu den Sachfragen nicht Mehrheiten, sondern die Führungseliten der Koalitionsparteien schwören ihre Parteimitglieder auf bestimmte Positionen ein (Fraktionszwang), die dann alle anderen Parteien der Opposition aus der politischen Gestaltung ausgrenzen. Letztlich regiert somit vielleicht eine Mehrheit innerhalb der Koalitionsparteien, die aber letztlich gesamtpolitisch –als nur Teil der Mehrheit – in der Minderheit ist.

Was unsere Demokratie braucht ist deshalb nicht der Ausschluss des Wählerwillens per Mehrheitswahlrecht, sondern eine Ausweitung der Repräsentanz des Wählerwillens durch mehr Elemente der direkten Demokratie. Und hier gibt es viele Elemente, zum Beispiel Volks- und Bürgerbegehren, Volksabstimmungen, Volksbefragungen, öffentliche Genehmigungsverfahren, geloste Bürgerräte und Gemeinde- und Stadtteilversammlungen. [jdm]