Fortsetzungsroman

Novelle von Levin Schücking:

Die Wippinger Thekla

Kapitel 6 und Schluß

Draußen aber drängten sich die Zeugen durch die Neugierigen auf die Straße hinaus - erfüllt von dem Erlebten und erst noch still und schweigsam unter dem Eindruck desselben. Dann, als sie draußen waren auf der Straße, begann die Überraschung über das, was sie gehört hatten, sich Luft zu machen, und auch die Schadenfreude über das hübsche Ärgernis, das jetzt zu Tage gekommen, und über den Grimm, in den es den Herbert versetzen werde, den eigentlich niemand recht mochte und dem alle sein Glück beneideten, die reiche Erbin, die er bekam.

Herberts Grimm und Groll war freilich groß genug. Er hatte sich diesen Ausgang der Sache nicht gedacht! Er hatte so ganz anders sich's vorgestellt. Als der Richter ihn vorgerufen und befragt, und auch gefragt hatte, ob er mit dem Lorenz befreundet oder verwandt sei, da hatte er ganz frisch und rund heraus geantwortet: "Verwandt? Gott bewahr mich, aber verfeindet bin ich mit ihm; er und ich wir sind immer schon als Schuljungen aufsässig gewesen und sind's auch noch, und darum wär's besser, mein' ich, Sie täten mich gar nicht nach ihm fragen!"

Der Richter hatte ihn scharf angesehen und dann gefragt:

"Verfeindet? Weshalb? Kirmesschlägereien? Oder weil einer dem andern ins Gehege gekommen bei Euren Liebschaften?"

"Es mag ja wohl beides sein, Herr Richter."

Der Richter hatte ihn wieder scharf angeschaut, dann eine Weile dem Gerichtsschreiber auf die fleißig arbeitenden Finger gesehen und plötzlich wieder aufblickend gesagt:

"Also sein Feind sind Sie? Da sind Sie deshalb wohl hinter das Heiligenbild geschlichen, um ihn zu behorchen, als er damals abends zu der Thekla Wipping gekommen ist und dieser gestanden hat..."

"Herr Richter", war Herbert hier eingefallen, "das ist nicht an dem; ich weiß von dem allen gar nichts; ich hab' hinter den Heiligenbildern nichts zu suchen - ich leugne die ganze Geschichte, von der Sie da reden; ich weiß gar nichts!"

So trotzig und laut hatte Herbert das vorgebracht, daß jetzt selbst der Gerichtsschreiber aufgeblickt und ihn angeschaut hatte; der Richter aber hatte gesagt:

"Sie leugnen, daß Sie überhaupt an jenem Orte gewesen? Wo waren Sie denn an jenem Nachmittage?"

"Bis spät in die Nacht hier im Wirtshause. Der Wirt kann's bezeugen."

"Es ist gut, treten Sie zurück zu den Zeugen dort!"

So war Herberts Verhör verlaufen; auch ihm hatten sie keinen Eid abgenommen, wohl weil er sich als Lorenz' Feind angegeben, und so hatte er sich tapfer und seinem Thekla gegebenen Wort treu benommen und war stolz darauf. Jetzt, als Thekla sich eben aus dem Haufen der aus der Haustüre des Wirtshauses drängenden Leute winden wollte, war er an ihrer Seite und sagte: "Das ist gut abgelaufen. Möcht' sehen, ob sie ihm jetzt noch was anhaben können, dem Lorenz! Komm' wieder herein, daß wir eine Herzstärkung nehmen."

"Du, Herbert?" antwortete sie ihm über die Schulter fort. "Du willst noch mit mir zu schaffen haben?"

"Ach - Du meinst wegen dessen, was Du da dem Richter vorgeschwatzt hast, damit er Dich mit dem Eidschwören und den Fragereien nicht lange plagte..." fiel noch lachend Herbert ein.

"Nein", antwortete Thekla, "nicht wegen dem, sondern weil ich's frei sagen und bekennen wollte, vor Gott und der Welt! Dir, Herbert, bin ich nichts mehr schuldig; das Wort, das Du mir damals, als ich zu Dir kam, gegeben hast, war nicht aufrichtig, das weißt Du, sonst hätten wir beide nicht heut' vor dem Richter gestanden. Und so bin ich auch an mein Wort nicht gebunden und sage mich los von ihm, hier, vor all' dieser Leute Ohren. Meinst Du, ich hätte keine Ehre? Ich würde vor allen Menschen laut sagen und bekennen: der Lorenz ist mein Liebhaber, und ich lieb' ihn aus Herzensgrunde, und ich könnte dann noch was andres tun, als gehn und ihn zum Manne nehmen? Nein, Herbert, das Wort ist einmal über meine Lippen gekommen, und nun es das ist, soll die Welt auch sehen, daß ich ein ehrliches Weib bin! Geh' mir aus dem Wege."

Damit ging sie fest und stolz davon. - Herbert stand und starrte ihr nach - er stand ganz wortlos, sie ergriff die Hand Stinas, die sich zu ihr durchgearbeitet hatte, und ging mit ihr zum Pfarrer.

Der Pfarrer war eben im Begriff auszugehen; er wollte hören, wie die Dinge verlaufen. Als ihm Thekla auf der Schwelle des Hauses entgegentrat, führte er sie in ein hinteres Studierstübchen, wo sie ganz ungestört reden konnten. Sie bekannte ihm all' ihre Angst und Not, die sie ausgestanden, und wie der liebe Gott sie nun so gnädig vor einem Meineid bewahrt habe, und wie sie nun all' den schlechten Hochmut bereue, womit sie es für ganz undenkbar gehalten, daß ein armer Tagelöhner ihr Mann werde, und wie sie nun, nachdem sie vor allem Volk laut ausgesprochen, was sie im Herzen trage, auch handeln wolle, wie ihr Gefühl es ihr gebiete, wie ihre weibliche Ehre, die über alle andre Ehre gehe, es von ihr fordere.

Der Pfarrer hörte mit mildem Ernst das alles an. "Da hast recht, Thekla", sagte er, Gott hat Dich wahrlich wunderbarlich vor einer Todsünde bewahrt. Und nun handle immer, wie Du es vor Gott verantworten kannst. Aber Lorenz hat - der Pfarrer dämpfte hier seine Stimme zum Flüstern - Lorenz hat doch eine Todsünde begangen, und es ist nicht wohlgetan, daß Du ihm so unmittelbar just daraus sein Glück erblühen lassen willst. Bleiben wir bei unserem früheren Plan, daß er eine Zeit lang wenigstens ins Ausland gehen soll, da lernen ein tüchtiger, kenntnisreicher (tm)konom zu werden - und dann immerhin kann er zurückkehren, und, wenn er wie ein Christ bereuet und alle die Zeit gut getan hat, Herr werden auf dem Wippinger Hofe."

Thekla schwieg eine Weile dazu. Dann sagte sie:

"Es ist wahr. Ich wollte, er hätte die Sünde nicht auf der Seele. Aber wenn sie ihn noch lange in Haft halten und untersuchen, dann büßt er ja auch..."

In diesem Augenblicke ging rasch die Türe auf - Stina steckte ihren flachsblonden Kopf herein und rief ganz erregt:

"Der Lorenz ist frei, sie haben den Lorenz freigelassen; er kommt hierher, über die Straße daher!"

Damit schoß sie wieder fort, dem Lorenz entgegen.

"Die Buße ist für ihn nicht schwer gewesen!" sagte der Pfarrer lächelnd.

Thekla war aufgesprungen; sie hörte kein Wort mehr, sie lauschte nur noch auf Lorenz' Schritt - dieser trat, von der Magd geleitet, hastig ein. Thekla flog ihm entgegen und schlang beide Arme um seinen Hals.-

Was sie dann drinnen gesprochen, weiß man nicht; nur, daß Lorenz mit Thekla wieder herauskam, die hellen Freudentränen in den Augen. Sie gingen, Thekla und er, zu seiner Mutter in ihre Hütte. Dann am andern Tage schon ging Lorenz fort, in eine ferne Gegend, ins Nachbarland. Da blieb er anderthalb Jahre und war auch, nach seinen Erzählungen in späteren Jahren, in dieser Zeit auf der See; er war beinahe ein Stadtherr geworden, als er zurückkam; aber das tat er nach und nach, als er mit Thekla verheiratet war, wieder von sich ab und blieb nur ein ruhiger, an sich haltender, wenig redender Mann, den die Gemeinde einige Jahre, nachdem er Bauer auf dem Wippinger Hofe geworden, zum Vorsteher wählte. Jetzt ist er sowohl wie Thekla tot, und ihr ältester Sohn hat den Hof geerbt. Ihr Gedächtnis bleibt aber in dem Armenhaus, das sie dem Dorfe geschenkt und ganz aus eigenen Mitteln erbaut haben. Über der Türe ist ein Stein eingemauert, darin sind ihre Hausmarken eingehauen, und darunter steht zu lesen: "Lorenz Wipping, genannt Vollmersen, und Thekla Wipping, Eheleute, anno 1858." -

 

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