Fortsetzungsroman

Novelle von Levin Schücking:

Die Wippinger Thekla

Kapitel 5

Sie waren in der Kirche zweimal aufgeboten bereits. Viel Aufsehen hatte es nicht in der Gemeinde gemacht; denn daß die Thekla doch einmal den Herbert Olligs heiraten würde, das stand ja doch so ziemlich fest. Im Wesen beider gegeneinander hatte sich auch nicht viel geändert, nur, daß Thekla noch stiller geworden und noch kühler gegen jedermann, und das Herbert noch öfter und länger auf dem Wippinger Hof in des Vaters Stuhl hinter dem Herdfeuer saß und in die Torfflamme spuckte. Wie es in Theklas Herzen aussah, das ahnte niemand. Auch der Pfarrer nicht, mit dem sie eine lange, geheime Zwiesprache gehabt hatte. Ihm selbst, dem Pfarrer, verlangte sehr nach dem Tage der Trauung. Denn Lorenz, den er zu sich berufen lassen, nachdem Thekla bei ihm gewesen, hatte ihm erklärt, daß er aus der Gegend jetzt noch nicht fortgehe, daß er wenigstens erst mit eigenen Augen ansehen wolle, wie die Thekla wirklich den Herbert nehme, wie sie und der Herbert zusammengegeben würden; und dann, nun dann wolle er sich bedenken, und so verlangte den guten, um seine Herde besorgten Seelenhirten nach diesem Tage; wenn der vorüber, dachte er, werde Lorenz schon gehen - aber bis dahin sorgte er; es war ihm stets so, als müsse bis dahin der wilde Mensch noch irgend ein Unglück anrichten.

Der gute Pfarrer - er sollte den erwünschten Tag nicht erleben, obwohl auf beiden Höfen die Vorrichtungen zur Hochzeit im besten Schwunge und Fortgange waren. Auf dem Wippinger Hofe, wo natürlich am meisten zu tun war, denn da sollte das junge Paar ja hausen, trieb Thekla es freilich apathisch und lässig und einsilbig genug; aber Stine und die Großmagd und die andern Mägde waren dagegen doppelt eifrig. Und so war beinahe für alles gesorgt, der Hochzeitsbitter hatte schon seine Stiefeln geschmiert, da schlug wie eine Bombe eines Tages die Nachricht ins Dorf und in die umherliegende Bauerschaft, daß der Richter und sein Schreiber mit den zwei Landdragonern wieder angekommen sei, und daß er Lorenz habe herbeiholen lassen, und daß dieser jetzt im Gemeindegefängnis sitze und scharf bewacht würde.

Wenn irgend jemand diese Nachricht wie ein Schlag traf, so war es natürlich Thekla. Es war ihr, als tue sich die Erde vor ihr auf; als stürze es sie in eine schwarze, bodenlose Tiefe hinein. Als müsse nun die Welt ein Ende nehmen, nun solcher Verrat möglich sei! Also Herbert hatte seinen heiligen Schwur gebrochen, er hatte ihr Opfer angenommen, das schwere Opfer - wie schwer, das mußte er doch sehn - und nun hatte er tückisch doch den Verräter gespielt - wohl selbst erschrocken, daß das Gericht so schnell bei der Hand war, noch ehe es zu spät, noch ehe sie Mann und Frau geworden und auf ewig aneinander gekettet waren!

Schnell war es in der Tat bei der Hand, das Gericht; schon am Nachmittage war einer der Landdragoner auf dem Wippinger Hofe mit einem Papier, das Thekla unterschreiben mußte, so schwer es ihrer zitternden Hand wurde. Es stand darauf, daß sie am andern Morgen um zehn Uhr als Zeugin vor den Richter vorgeladen sei. Sie solle sich's wohl überlegen, was sie auszusagen habe, sagte der Landdragoner; sie sei die Hauptzeugin, denk' er, und sie werde alles beschwören müssen.

Sie, die Hauptzeugin! Es war richtig, es konnte nur Herbert sein, der das Unglück angerichtet. Wenn das Gericht auf andere Weise, selbsttätig, Spuren der Schuld von Lorenz entdeckt hätte, konnte es nicht auf ihr Zeugnis ankommen. Herbert war der Verrräter. Der Meineidige. Oh, weshalb war er nicht da, daß sie's ihm ins Gesicht schleudern konnte, das Wort: Du Lügner, Du Eidbrecher! Weshalb kam er nicht, es zu hören, daß sie jetzt nicht mehr daran denke, ihr Wort zu halten? Brach er sein Wort, so war auch ihres nicht gegeben. Was waren in dieser Welt voll Schlechtigkeit überhaupt noch Worte wert! Was Schwüre! Beschwören sollte sie vor dem Richter, was sie auszusagen hatte: beschwören, daß es wahr sei, daß Lorenz der Mörder, daß er ihr alles haarklein erzählt und eingestanden. Eher sollte ihre Zunge verdorren, ehe sie es dem Richter verriet, was er, der unselige Mensch, in seinem grenzenlosen Vertrauen ihr gesagt; solch ein Vertrauen täuschen - nein, sie wäre ja nicht wert gewesen, daß die Erde sie noch trüge! Und wenn sie auf der Stelle drum sterben sollte, sie verriet Lorenz nicht! Sie verriet ihn jetzt am allerwenigsten, wo solch' unerhörte Falschheit sich wider ihn erhoben hatte, um ihn zu verderben. Jetzt nun einmal gar nicht! Thekla durchstürmte eine Leidenschaft, wie sie nie in ihrem Leben sie gefühlt; sie war wie eine verwundete Löwin; sie hätte sich, sie hätte jedem, der ihr jetzt begegnete, ein Leid antun mögen: wie mochten alle diese Menschen mit den verwunderten Gesichtern um sie her, sich so ruhig, zufrieden, selbstvergnügt bewegen, während Lorenz in solcher Not und Angst war und solch' meineidige Falschheit in der Welt - -

Als dann aber nach und nach der Sturm in ihr sich legte, legte sich immer herzbeklemmender das Wort des Landdragoners auf sie; eine erstickende Angst kam über sie. Sie werde alles beschwören müssen, hatte er gesagt. Einen Meineid also mußte sie begehen - und konnte sie das als eine wahre Christin? Gab es dafür eine Absolution? War damit ihr Seelenheil nicht verloren für ewig? Einen Mord konnte man begehen in der Wut, in der Leidenschaft, die sich nicht bedachte und nicht wußte, was sie tat, so wie Lorenz einen begangen hatte. Dafür gab es eine Absolution, wenn man bereute, beichtete, büßte. Denn Gott ist allbarmherzig und ist allgütig gegen schwache Menschenkinder. Aber mit ruhigem Vorbedacht, mit dem vollen Bewußtsein über das, was man tut, vor Gottes Angesicht lügen, die Hand aufheben, um ihn anzurufen zum Zeugen der Lüge - war das nicht eine Sünde, die keine Reue büßt, die keine Gnade findet, die hinabführt dahin, wo die ewige Verdammnis ist? Meineidig werden gar dem Richter, der christlichen Obrigkeit, die ein Recht hat zu fragen? Oh es war doch schrecklich, ganz schrecklich - es war besser zu sterben vorher, gewiß, es war besser!

Nun hätte Thekla ganz gern das Haus verlassen und wäre gegangen bis an den großen Fluß und hätte sich hineingestürzt, um ihrer Not und ihrer Angst ein Ende zu machen. Aber auch das war ja so eine schwere Sünde vor Gott - und wenn sie es getan, wäre es nicht etwas wie ein Bekenntnis gewesen - hätte der Richter nicht daraus arge Schlüsse und Lorenz' Schuld gezogen?

In der furchtbaren Pein solcher Gedanken brachte Thekla die letzten Stunden des Tages und die Nacht zu. Ratlos, hilflos - sie hatte niemand auf Erden, an den sie sich wenden konnte. Zu dem Pfarrer konnte sie sich nicht flüchten mit ihrer Last - was der sagen, wie der sie vor einem Meineid warnen, wie er ihr mit dem ewigen Höllenfeuer drohen würde, das wußte sie; das mußte er als redlicher Priester ja tun! Endlich kam ein Zustand innerer Erstarrung über sie. Sie konnte nicht mehr denken, sie konnte nur noch brüten über dem Gefühl, wie wohl ihr sein würde, wenn sie gar nicht mehr sei, wenn sie tot und starr wäre, wenn nichts mehr sei - die ganze Welt nicht mehr!

Zu einem Entschlusse kam sie nicht; keine der Stunden der Nacht, die an ihrem schlummerlosen Haupt vorbergingen, brachte ihr den Entschluß, was sie tun solle. Und wie konnten sie auch; es war ja zu entsetzlich, zu grausam-fürchterlich, was von ihr verlangt wurde. Denn wenn sie der einzige Zeuge war, der wider Lorenz etwas auszusagen hatte, so brachte sie, wenn sie die Wahrheit sprach, Lorenz auf's Blutgerüst; und wenn sie alles ableugnete, so schwor sie einen Meineid, war, so lang sie lebte, sich selber verächtlich und hatte keine ruhige Stunde mehr, und einstmals, nach diesem Leben, war sie unrettbar verdammt und unselig! Wär' ihr da nicht in der Tat besser gewesen, wenn sie in den Fluten des Stromes gelegen?

Das einzige, was ihr über diese Stunden hinweghalf, war jene Stumpfheit aller Sinne, jene innere Erstarrung, diese Art Schutzwehr und Hilfe, die im Nervenleben der Frau liegt, die in Augenblicken großer Erschütterungen lähmend alle ihre Sinne umfängt und sie bewußtlos über das Ärgste hinwegträgt.

Als der Morgen gekommen war, mußte die Großmagd sie mahnen, aufzustehen, sie wär' sonst gar nicht aus ihrer Kammer gekommen, und Stina half ihr dann, sich zum Ausgehen anzukleiden. Zum Frühstück etwas zu nehmen, vermochte sie nicht, nur eine Tasse Kaffee zwang ihr die Großmagd auf. Sie sprach fast kein Wort über die Sache, über den Gang, den sie tun mußte, gar keines. Nur da horchte sie auf, als der Großknecht mit einem Nachbarn hereinkam und dieser erzählte, gestern am Nachmittage sei der Richter mit seinem Schreiber und einem der Landdragoner in Lorenz' Häuschen gewesen und da hätten sie Haussuchung gehalten, hätten aber nichts gefunden; eine Flinte hätte der Lorenz wohl am Herdbusen hängen gehabt, aber ob sie seit dem Vogelschießen zu Pfingsten abgeschossen gewesen oder nicht, das hätte man unmöglich sehen können, und von Pulver, von Schrot, von so etwas sei keine Spur vorhanden gewesen.

"Ja, ja", schloß der Bauer vom Nachbarhofe, "wenn der Lorenz es getan hätt', so wäre er auch schlau genug, so etwas auf die Seite zu bringen. Ich denk', sie werden ihn wohl wieder laufen lassen müssen; seine Mutter will beschwören, daß er die ganze Nacht zu Hause in seinem Bett gelegen hat, die Nacht, in welcher der Philipp umgekommen ist.

Es gab Thekla einen Stich ins Herz, was der Mann da erzählte. Ob es auch richtig sei, ob er aus dem Geschwätz der Dorfleute über den Gang der Untersuchung, die doch sicherlich nicht zu jedermanns Munde kam, habe so viel wissen können, fragte sie sich nicht. Sie hörte nur heraus, daß, wenn es so war, nur desto mehr alles auf ihr Zeugnis ankomme, und daß seine Mutter den Mut habe, um ihres Kindes willen die Todsünde auf ihre Seele zu laden. Oh, wenn sie, Thekla, doch auch nur von seinem, von des Lorenz Blute, seine Schwester gewesen wäre - vielleicht hätte der liebe Gott dann einst noch Erbarmen mit ihr gehabt und ihr vergeben. -

Die Stunde kam endlich, wo sie gehen mußte. Sie nahm Stina mit, auf daß sie doch nicht ganz allein sei auf ihrem Gange. Stina hing sich einen kleinen Korb an den Arm, darin hatte die Großmagd ihr Zwiebäcke, eine kleine Flasche mit altem Kornbranntwein und ein wenig kaltes Fleisch gepackt für den Fall, daß Thekla übel wurde. Und dann gingen sie. Über den Esch, der Thekla gehörte, zur Heide hinauf und über die braungraue, von flockigen grauen Wolken überhangene Ebene, an deren Rand das Dorf lag, mit dem langen Kirchdach und dem mächtigen Turmbau in der Mitte. Man sah ihn kaum, den Turm und das Kirchendach, so sehr schwammen die Nebel, die aus dem Flußgewässer da unten emporstiegen, verhüllend über der Ferne.

Thekla schritt schweigend einher. Stina, die zu plaudern angefangen, hatte sie verboten, auf sie "einzureden" - der Kopf tue ihr weh davon, sagte sie. Noch immer war etwas von jener Erstarrung in ihr, um sie; noch immer war sie für die Frage, was sie tun solle, ratlos, hilflos; zu Hilfe kam ihr endlich nur etwas, die Empörung, die furchtbare Bitterkeit, die sie fühlte, als sie Herbert sah.

Herbert kam, als sie das Dorf erreicht hatte, ihr auf der Straße entgegen - er mußte sie da erwartet haben.

"Thekla", sagte er, ihr die Hand reichend, "das ist eine üble Geschichte..."

Sie nahm die Hand nicht, sie wandte den Kopf zur Seite und schritt rasch weiter.

"Thekla", fuhr er an ihrer Seite bleibend fort, " daß es so gekommen ist, tut mir leid, von Herzen leid. Wahrhaftig! Sollst auch sehn, was ich tu und sprech', ihn loszureißen! Ich bin nicht schuld daran, Thekla. Kannst mir's glauben!"

Sie blieb stumm wie bisher.

"Sieh", fuhr er flüsternd, damit Stina es nicht hören sollte, fort - "der Schulmeisters-Adjunkt muß die Anzeige gemacht haben. Es ist gar nicht anders, er muß es sein. Denn damals, weißt Du, als ich abends in Eurem Baumhof mit Dir geredet hatte und dann von Dir ging, da war mir's noch viel zu früh, nach Hause zu gehn und in die Federn zu kriechen; es war mir gar so wohl zumute danach, und deshalb ging ich hierher ins Wirtshaus und ließ mir eine Flasche Wein auftischen, und als die andern, die ich noch antraf, gegangen waren, hielt nur der Adjunkt wacker bei mir aus und so traktierte ich ihn, den Hungerleider, und wie mir der Wein nun zu Kopfe stieg, da konnte ich's nicht bei mir behalten und so vertraut' ich's ihm an und er erfuhr es, was ich am Nachmittag erlebt hatte. Am andern Tage gleich, als wir zusammen beim Pfarrer gewesen, weißt, da sagt ich Dir, daß ich ein Geschäft hätt' hier im Dorf und ließ Dich allein heimgehen; ich tat's um mit dem Adjunkt zu reden; fünf Taler hab' ich ihm gegeben und zu Michaelis unser jüngstes Kalb, wenn es fett ist, versprochen; dafür hat er mir gelobt, reinen Mund zu halten in Ewigkeit, der hungrige Schuft! Nun muß er's doch an's Gericht geschrieben haben, in der Hoffnung, die hundert Taler zu bekommen. Er soll sich hüten vor mir! Aber Du siehst, ich hab' keine Schuld."

Auch auf diese lange Erklärung antwortete Thekla nicht.

"Glaubst mir nicht?" fuhr er lauter fort.

"Was kann Dir daran liegen, ob ich's glaub' oder nicht", antwortete sie jetzt endlich leis mit heiserer Stimme - "laß mich nur!"

Er blieb trotzdem an ihrer Seite, doch waren sie jetzt vor dem Wirtshaus angekommen, in welchem das Gericht gehalten wurde. Dorfleute standen auf dem Flur, von der Neugier dahin geführt, der Gemeindediener unter ihnen; er nahm Herbert und Thekla gleich in Empfang und führte sie in ein großes Zimmer, wo die Zeugen warten mußten, bis sie aufgerufen wurden; der Landdragoner war darin und wollte nicht, daß sie miteinander sprachen. Sie mußten sich still an die Wand setzen.

Und dann wurde einer nach dem andern aufgerufen und mußte in das anstoßende, große Zimmer, das hinten in den Garten hineingebaut war und bei Hochzeiten und Kirmessen zum Tanzsaal diente, treten.

Der Vorsteher kam jedesmal herein, er vertrat den Gerichtsdiener und rief die Zeugen vor. Herbert war zuletzt aufgerufen - schon ganz bald danach kam der Vorsteher wieder und rief Thekla.

Mit brechenden Knieen ging sie. In dem Zimmer des Gerichts, am obern Ende, stand quergestellt ein langer Tisch, hinter dem saß der Richter, ein großer, magerer, scharfblickender Herr mit schwarzen, grauwerdenden Haaren; er sah verdrießlich, unzufrieden drein und blickte auf die schon vernommenen Zeugen, die in der Ecke links in einem Häuflein zusammenstanden, als ob sie alle Bösewichter wären. Links von ihm saß der Schreiber und ihm zur Rechten stand ein Kruzifix mit zwei brennenden Lichtern zur Seite - vor dem wurden die Zeugen beeidigt. Hätte Thekla bei ihrem Eintritt sich nicht schon halb tot gefühlt, sie hätte es, als sie das Kruzifix mit unserem gekreuzigten Heiland erblickte, zwischen flammenden Lichtern, wie auf einem Altar.

"Treten Sie mehr heran!" sagte der Richter, als Thekla, von dem Vorsteher hereingeführt, stehenblieb; dann sie scharf ins Auge fassend, wie sie nun mühsam nähertrat, fuhr er, zum Vorsteher gewendet, fort:

"Geben Sie der Zeugin einen Stuhl. Sie scheint sehr angegriffen."

Der Vorsteher trug einen Stuhl herbei. Währenddes behielt der Richter Thekla scharf im Auge, als wenn er in ihrem Herzen lesen wolle. Als sie sich gesetzt hatte, begann er:

"Sie heißen Thekla Wipping, Kolonatsbesitzerin, von Konfession katholisch ?"

Thekla nickte mit dem Kopfe.

"Wie alt?"

"Dreiundzwanzig Jahre", versetzte sie kaum hörbar.

Des Richters Auge behielt immer noch das eigentümlich Forschende, mit dem es auf ihr lag, während der kleinen Pause, die er jetzt machte. Dann fuhr er fort:

"Sie wissen, in wessen Angelegenheit Sie als Zeugin vorgeladen sind - und gegen wen sich die Untersuchung richtet?"

Thekla nickte abermals nur mit dem Kopfe. Ihr Herz schlug so heftig, daß sie glaubte, sie werde auf den Boden hinfallen; sie konnte kaum atmen mehr. Der Richter aber redete weiter:

"Ihr Zeugnis ist von großer Wichtigkeit für den Gang der Untersuchung. Der in einer eingelaufenen Denunziation als Mörder des Aufsehers Philipp bezeichnete Lorenz Vollmersen soll Ihnen die ganze Tat gestanden und erzählt haben, Ihnen allein. Ist dieses wahr, wie wir von Ihnen hören möchten, so deutete es auf ein sehr inniges Verhältnis zwischen Ihnen und dem verhafteten Vollmersen. Wie käme er sonst dazu, Ihnen ein solches Verbrechen zu gestehen? Ehe ich also fortfahre, Sie über die Sache selbst zu vernehmen, muß ich Sie fragen: Stehen Sie in einem solchen besonderen Verhältnis zu demselben? Haben Sie eine Liebschaft mit ihm, ist er Ihr Bräutigam oder Ihr Geliebter, Ihr Schatz, wie Sie es hierzulande nennen? Überlegen Sie wohl, was Sie mir auf diese Frage antworten. Sie ist für uns von Wichtigkeit. Wenn Sie mir dieselbe nach Ihrem Gewissen mit Ja beantworten müssen, dann werde ich Ihnen keinen Eid abnehmen zur Bekräftigung Ihrer Aussagen. Dann dient uns, was wir von Ihnen erfahren, nur zur Information; es steht dann bei uns, wieviel Wert wir darauf legen. Sprechen Sie aber Nein, so haben Sie den Zeugeneid, wie die andern zu leisten und damit Ihre Aussagen zu bekräftigen.

Thekla riß weit die Augen auf. Hatte sie denn recht gehört? Die Worte des Richters klangen ihr wie himmlische Musik.

Keinen Eid brauchte sie zu leisten, nicht für ewig verdammt und unselig zu werden - und konnte doch Lorenz retten? Sie sprang auf, sie konnte nicht ruhig sitzenbleiben, bei dem Gefühl von Befreiung, von Glück, von unendlichem Glück und Seligkeit, das über sie kam, hoch aufgerichtet, mit hochwogender Brust stand sie da, und laut sagte sie:

"Ja, Herr Richter, ja, dem ist so; vor fünf Jahren schon, da ist der Lorenz Knecht auf unsrem Hofe gewesen, und da haben wir uns verlobt miteinander, und seitdem bin ich ihm im Herzen treu geblieben und habe nie einen andern geliebt als den Lorenz."

Eine Bewegung, ein Murmeln entstand unter den Leuten, die im Hintergrunde standen. -

Der Herbert trat, einen Ruf der Entrüstung ausstoßend, einen Schritt aus dem Haufen vor; der Richter winkte mit der Hand Ruhe und dann fuhr er fort:

"Wohl denn, nach dieser Erklärung kann ich Sie nur als Informationszeugin zulassen. Waren Sie am Sonntag den vierten dieses Monats abends an einem Heiligenbilde, unfern Ihres Hofes?"

"Ja."

"Ist der Lorenz Vollmersen da zu Ihnen gekommen, und haben Sie dort mit ihm eine Weile geredet?"

"Ich habe ihn dort angetroffen. Vielleicht eine halbe Stunde lang habe ich mit ihm geredet."

"Wovon haben Sie geredet?"

Thekla stockte einen Augenblick, dann antwortete sie entschlossen:

"Er hat mir gesagt, daß er mich liebte wie immer und in alle Zukunft; ich habe raten wollen, sein Glück in der Ferne zu suchen..."

"Weshalb nicht bei Ihnen, wenn Sie seine Braut sind?"

"Weil er so arm ist, nur ein Tagelöhners-Kind... und ich, ich, Herr Richter, so schlecht war, in meinem Hochmut mich seiner zu schämen."

"Nun wohl, das geht uns hier weiter nicht an. Hat der Lorenz Vollmersen Ihnen dabei gestanden, daß er den Grenzaufseher erschossen habe?"

"Nein, Herr Richter."

"Hat er mit Ihnen damals von dem Morde geredet?"

"Er hat geredet von dem, was ich gesagt habe", versetzte Thekla.

Der Richter blickte seitwärts nieder auf das Papier, auf dem der Gerichtsschreiber eilfertig alles niederschrieb. Dann sagte er: "Also Sie erklären, daß Sie nichts von dem Lorenz gehört haben, was wie ein Geständnis, er sei der Mörder, lautete?"

"Nein, nichts!"

"Gut. Sie sind entlassen."

Er fixierte die andern Zeugen, wie wenn er sich bedächte, ob er einen derselben noch etwas zu fragen habe. Darauf sagte er:

"Die Zeugen sind alle entlassen; Vorsteher, lassen Sie die Leute gehen!"

Als der Raum sich geleert hatte, sagte der Richter zu dem Gerichtsschreiber:

"Wir sind mit der Denunziation angeführt - die Sache löst sich in Rauch auf. Ich vermute eine Dorfintrige dahinter - wohl um den Lorenz und diese hübsche reiche Erbin auseinanderzubringen. Der Herbert Olligs sagt, daß er nichts gehört von einem Geständnis, welches der Thekla Wipping gemacht worden sei, diese Thekla deponiert in Übereinstimmung damit, die Haussuchung hat nicht den mindesten Anhalt gegeben, wir müssen den Inhaftierten wieder entlassen, es liegt nichts vor, um seine weitere Haft zu rechtfertigen."

Der Gerichtsschreiber war derselben Ansicht. "Es wird eine Bosheit hinter der Denunziation stecken, die ja auch anonym eingelaufen ist", sagte er. "Der Abfasser derselben will sich erst um die ausgelobte Belohnung melden, wenn die Sache zum Abschluß gediehen ist. Man hätte gar nicht darauf einzugehen brauchen, auf die Schreiberei."

Danach beendeten die Herren ihr Protokoll, unterschrieben es beide, und dann rief der Richter den Landdragoner herein, und gab ihm den Befehl, den Lorenz Vollmersen auf freien Fuß zu stellen.

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