Im Emsland nicht nur "heile Welt"
hh Meppen. Ems-Zeitung vom 24.10.2006
Unterschicht, Kinderverwahrlosung, Elternführerschein, sozialer Friede - das sind Schlagworte, über die derzeit heftig diskutiert wird. Wie ist die Situation im Emsland? Dieser und anderen Fragen stellt sich Landrat Hermann Bröring im Interview.

Herr Bröring, gibt es Ihrer Ansicht nach im Emsland bereits heute eine Unterschicht? Oder haben wir hier noch eine "heile Welt"?

Unsere Situation ist sicherlich nicht vergleichbar mit der in den Großstädten. Aber: "heile Welt" nein, "Unterschicht" - wenn man den Begriff denn verwenden will - in Einzelfällen ja.

Sehen Sie Chancen, durch Initiativen des Landkreises den sozialen Frieden zu stärken bzw. zu erhalten?

Ja. Arbeit und damit Ausbildung ist und bleibt die Eintrittskarte zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Deshalb gilt: Kurzfristig eigene neue Modelle zur Ausbildungsfähigkeit schwacher Schulabgänger gemeinsam mit Schule und Wirtschaft entwickeln und die Rahmenbedingungen für die emsländische Wirtschaft zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen weiter verbessern.

Hartz IV hat den Kommunen mehr Möglichkeiten für den Umgang mit Sozialschwachen gegeben. Hat diese Eigenständigkeit spürbare Vorteile gebracht?

Die Vermittlungszahlen können sich sehen lassen. Allein 2006 konnten bis heute 4093 Hartz-IV-Empfänger auf dem ersten Arbeitsmarkt untergebracht werden. Aber trotzdem eine nüchterne Analyse: Für die etwa 8000 Hartz-IV-Empfänger, die arbeiten wollen, haben wir nur teilweise Arbeit. Diese Gruppe leidet darunter und befürchtet einen sozialen Abstieg.

...und die anderen?

Eine durchaus größere Gruppe will bzw. kann nicht arbeiten. Die, die nicht wollen bzw. nicht akzeptieren, dass 1-Euro-Jobs öffentlicher Arbeitsmarkt sind, versuchen sich über den berühmten "gelben Schein" oder auf andere Weise zu drücken. Schlimmer noch: Sie tragen zur Rufschädigung der Hartz- IV-Empfänger bei. Andere haben sich, weil sie es aufgrund ihrer persönlichen sozialen Herkunft gar nicht anders kennen, "eingerichtet" und "können" nicht arbeiten.

Was unternehmen Sie, um Menschen, die teilweise seit Jahren in einer Familie zum großen Teil von Sozialleistungen leben, wieder mehr Perspektiven zu bieten?

Hier gilt: Fördern durch Fordern. Den Kindern müssen wir durch eine enge Begleitung zur Ausbildung verhelfen. Jugendliche und Erwachsene müssen wir aus ihrer Orientierungslosigkeit herausholen. Als letztes Mittel müssen wir gegebenenfalls durch harte Sanktionen erklären, dass eine staatliche Transferleistung als Gegenleistung verlangt, persönlich alles zu tun, um auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar zu sein. Wir müssen ihnen durch Trainingsmaßnahmen helfen, Tagesstrukturen zu erlernen. Dazu muss das Instrumentarium von Hartz IV weitere Spielräume schaffen. Allein eine generelle Kürzung der Zahlungen zielt ins Leere. Es kann nicht angehen, dass eine Reihe von Firmen in großem Umfang z. B. Schweißer sucht, und wir nicht in der Lage sind, den Unternehmen aus der Gruppe der Langzeitarbeitslosen diese zur Verfügung zu stellen, weil sie entweder nicht entsprechend qualifiziert sind oder sich nach einigen Tagen "selbst verabschieden".

Zweites Thema: In die Kritik ist nach dem Tod von Kevin in Bremen das System der Jugendpflege geraten. Können Sie so einen tragischen Fall für das Emsland ausschließen?

Ich hoffe nicht, dass wir in naher Zukunft ein so tragisches Schicksal zu beklagen haben. Ein solcher Fall ist immer Anlass zur Überprüfung der eigenen präventiven Maßnahmen bzw. Vorkehrungen.

Haben Sie ergänzende Maßnahmen getroffen?

Wir prüfen zurzeit mit dem Jugendamt, wie das Netzwerk, das Kinderverwahrlosung in jeder Art aufdeckt bzw. verhindert, enger geknüpft werden kann. Wege könnten der weitere Ausbau des eigenen allgemeinen Sozialdienstes, eine noch engere Verknüpfung mit Sozialdiensten, Caritas und Diakonie sein, aber auch die Einbeziehung der Kindergärten und Kinderärzte.

Scheitert eine umfassende Betreuung der Kinder aus einem schwierigen Umfeld an finanziellen Voraussetzungen?

Auch wenn die Ausgaben der Jugendhilfe seit Jahren steigen, an finanziellen Voraussetzungen wird die richtige Betreuung für diese Kinder im Emsland nicht scheitern, ebenso nicht an fehlenden Pflegeplätzen.

Als Staat in die Erziehung einzugreifen, kann nicht die Lösung sein. Halten Sie einen "Elternführerschein" für sinnvoll?

Staat und Kommunen müssen Eltern einen ganzen Strauß von unterstützenden Maßnahmen bereitstellen. Dazu kann das Angebot des "Elternführerscheins" gehören.

Mit welchen Instrumenten können Sie erreichen, dass vor allem die Eltern, die Unterstützung benötigen, diese auch letztlich annehmen?

Eine Verpflichtung ist wohl nur möglich, wenn der Staat über finanzielle Transferleistungen Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Erwachsenen hat,die ihrer Verpflichtung nicht nachkommen. Hierüber sollte ernsthaft diskutiert werden.

Wo sehen Sie Möglichkeiten, die Chancen für Kinder und Jugendliche aus sozialschwachen Familien zu verbessern?

Unsere im Aufbau befindlichen Familienzentren sollen beitragen, dass bereits im Vorschulalter Perspektiven aufgezeigt werden. Ganz oben steht dann Bildung gleich Ausbildungsfähigkeit. Unsere Verpflichtung ist es, für einen Ausbildungsplatz zu sorgen. Damit können wir ihnen eine Perspektive und Orientierung geben.