Süddeutsche Zeitung
Ressort: Ausland
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Datum und Zeit: 31.07.2006 - 22:00
28.07.2006 19:03
Uhr
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"Für die Toten ist nur
die Hisbollah verantwortlich"
Israel hat das Recht,
das Leben seiner eigenen Bürger über das Leben der Bürger im Gebiet des
Aggressors zu stellen.
Kommentar von Alan M.
Dershowitz
Keine Demokratie der Welt würde – oder sollte – es
hinnehmen, wenn ihre Städte mit Raketen beschossen werden. Jedes Land würde
darauf angemessen militärisch reagieren.
Doch was ist „angemessen“? Das ist die große Frage
angesichts der anhaltenden Bombardierung des Libanon durch Israel. Die
herkömmliche Antwort des internationalen Kriegsrechts lautet: Militärische
Ziele dürfen angegriffen werden, solange die Zahl der zivilen Opfer dabei
möglichst gering bleibt.
Und wenn die militärischen Ziele nicht ohne zivile Opfer
erreicht werden können, dann sollen diese Opferzahlen zumindest „proportional“
zu jenen sein, die durch die Militäraktion verhindert werden.
Dies ist alles schön und richtig, solange es um Demokratien
geht, die ihre Militärstützpunkte bewusst abseits von Wohngebieten errichten.
Israel zum Beispiel hat seine Luftwaffe, seine Atom-Anlagen und wichtige
Armee-Stützpunkte an abgelegenen Orten stationiert (so abgelegen dies bei einem
solch kleinen Land möglich ist). Für einen Feind ist es möglich, israelische
Militärziele anzugreifen, ohne der Zivilbevölkerung so genannte
Kollateralschäden zuzufügen.
Die Hisbollah in Südlibanon und die Hamas im Gazastreifen
aber lassen ihre militärischen Flügel aus dicht besiedelten Wohngebieten heraus
operieren. Ihre Milizen schießen Raketen mit Schrapnell-Sprengköpfen auf
Israel, die von Syrien und Iran eigens dafür entworfen wurden, die Zahl der
zivilen Opfer zu maximieren. Danach verstecken sich diese Milizen unter der
Bevölkerung vor den Vergeltungsschlägen. Diese Taktik ist für sie eine
Win-Win-Situation: Geht Israel nicht gegen sie vor, weil das Land fürchtet,
Zivilisten zu töten, so können die Terroristen weiterhin ungezügelt Raketen auf
israelische Bürger abfeuern.
Greift Israel dagegen die Terroristen an und verursacht es
dabei zivile Opfer, erringen die Terroristen einen Propagandasieg. Der
jederzeit vorhersehbare Chor der Verurteilung gegen die israelische
„Überreaktion“, üblicherweise angeführt von Frankreich und dem Rest der
Europäischen Union, ermutigt in Wahrheit die Terroristen, ihre Raketen aus
dicht bevölkerten Wohngebieten heraus abzufeuern. So trägt dieser Chor zum Tod
von Zivilisten auf beiden Seiten bei.
Denn während Israel alles Vernünftige unternimmt, um die
Zahl der zivilen Opfer zu minimieren – wenn auch nicht immer mit Erfolg –, tun
Hamas und Hisbollah alles in ihrer Macht Stehende, um die Zahl ziviler Opfer
auf beiden Seiten zu maximieren. Jawohl, diese islamischen Fundamentalisten
wollen in Wahrheit, dass mehr ihrer eigenen Zivilisten von den Israelis getötet
werden. Das ist ein wichtiger Teil ihrer Strategie. Wie ein europäischer
Diplomat einmal bemerkte: „Sie beherrschen perfekt die harte Mathematik des
Schmerzes.“
Warum sollte dies irgend jemanden
überraschen? Es handelt sich hier um Gruppen, die ihre eigenen Kinder als
Selbstmordattentäter in den Tod schicken, manchmal, ohne dass die Kinder
überhaupt wissen, dass sie geopfert werden. Das vielleicht berüchtigste
Beispiel dafür ereignete sich vor zwei Jahren, als einem elfjährigen
Palästinenserjungen Geld gegeben wurde, damit er ein Paket durch die
israelische Sicherheitsschleuse trug. Der Junge wusste nicht, dass sich in dem
Paket eine Bombe befand, die ferngezündet werden sollte, sobald er den
Grenzposten passierte. Zum Glück scheiterte der Plan.
Dieser Missbrauch von Zivilisten als Schild und Schwert
macht eine Neubewertung des traditionellen Kriegsrechts erforderlich. Zwischen
Kämpfern und Zivilisten war leicht zu unterscheiden, solange es sich bei den
Kämpfern um uniformierte Mitglieder einer regulären Armee handelte, die auf
Schlachtfeldern fern der Zivilbevölkerung gegen andere Armeen fochten. Hingegen
ist dies schwieriger, wenn es um Terroristen geht, die aus ihren eigenen
Wohngebieten heraus Raketen auf feindliche Wohngebiete feuern.
Es gibt keine klare Trennlinie zwischen Kämpfern und
Zivilisten mehr. Heute gibt es fließende Übergänge. Am zivilen Ende dieses
Spektrums sind die reinen Unschuldigen: Babys, Geiseln und andere, die in
keiner Weise an Kämpfen beteiligt sind. Am quasi militärischen Ende des
Spektrums wiederum sind diejenigen Bürger, die bereitwillig Terroristen bei
sich aufnehmen, sie materiell unterstützen und sich als menschliche
Schutzschilde zur Verfügung stellen. Irgendwo dazwischen befinden sich all
jene, die die Terroristen politisch, geistig und ideologisch unterstützen.
Kriegsrecht und moralische Bewertung militärischer Einsätze
müssen sich diesen neuen Realitäten anpassen. Schuld und Verantwortung für
zivile Opfer sollte direkt den Terroristen zugewiesen werden, die alles in
ihrer Macht Stehende tun, diese Opferzahl zu maximieren. Hier mag ein Vergleich
mit dem US-Strafrecht aufschlussreich sein: Nimmt ein Bankräuber einen
Kassierer als Geisel und bedient er sich seiner als Schutzschild, während er
auf die Polizei schießt, so ist er des Mordes schuldig, falls die Polizei
daraufhin versehentlich die unschuldige Geisel tötet.
Dasselbe sollte auch für Terroristen gelten, die Zivilisten
als Schilde benutzen, hinter denen sie ihre Raketen abfeuern. Israel muss es
erlaubt sein, den Kampf zu beenden, den Hamas und Hisbollah angefangen haben –
selbst wenn dies zivile Opfer in Gaza und im Libanon bedeutet. Eine Demokratie
hat das Recht, das Leben ihrer eigenen unschuldigen Zivilisten über das Leben
der Zivilisten eines Aggressors zu stellen, besonders dann, wenn sich unter
jenen Zivilisten zahlreiche Komplizen der Terroristen befinden.
Israel hat den Libanon im Jahr 2000 und Gaza im Jahr 2005
verlassen. Hierbei handelt es sich also nicht mehr um besetzte Gebiete. Dennoch
werden von dort Raketen auf israelische Bürger abgeschossen. Dies zeigt doch,
dass nicht Terrorismus eine Folge von Besatzung ist, sondern umgekehrt:
Besatzung ist eine Folge von Terrorismus. Soll Israel Gaza und den Südlibanon
nicht erneut besetzen, so müssen die libanesische Regierung und die
palästinensische Autonomiebehörde gewährleisten, dass diese Gebiete nicht
länger ein Unterschlupf für Terroristen sind.
Vor einigen Wochen hatte die israelische Regierung noch
angekündigt, sich auch aus weiten Teilen der Westbank zurückzuziehen. Aber wie
kann von Israel erwartet werden, damit fortzufahren, wenn es im Gegenzug nur
mehr Terrorismus und mehr internationale Verurteilung erhält – bloß weil es Terroristen
verfolgt, die die geräumten Gebiete als Abschussrampen benutzen?
Alan M. Dershowitz ist
Strafverteidiger und Professor an der Harvard Law School. Er vertrat den
dänischen Adeligen Claus von Bülow und den US-Sportler O. J. Simpson.