konkret
vom 5/2006

»Absolut skrupellose Leute«

Haben deutsche Wissenschaftler in den achtziger Jahren im Geesthachter Kernforschungszentrum mit Techniken experimentiert, die zum Bau einer H-Bombe benötigt werden? Neue Erkenntnisse über die Ursachen der Leukämie-Erkrankungen in der Elbmarsch lassen diesen Verdacht aufkommen.
Von Detlef zum Winkel

Kennt jemand den Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr des Landes Schleswig-Holstein? Er heißt Dietrich Austermann (CDU) und ist seiner Verantwortung nicht gewachsen. Als er kürzlich erfuhr, das ZDF wolle eine Dokumentation über Kinderleukämie in der Elbmarsch senden und darin auch Informationen nachgehen. wonach es vor 20 Jahren einen bis heute geheimgehaltenen atomaren Störfall bei Geesthacht gegeben habe, reagierte er hektisch, wie es in Agenturmeldungen hieß. Gegenüber den »Lübecker Nachrichten« bezeichnete er es als »unverantwortlich, daß diese alte Geschichte aufgewärmt wird«. Vom Schleswig-holsteinischen Sozialministerium und vom niedersächsischen Umweltministerium war ähnliches zu vernehmen. Es sei menschenverachtend damit Ängste zu schüren. und es gebe in der Angelegenheit nichts Neues. Das kann man unterschiedlich lesen. »Nichts Neues« war es für diese Politiker. als im Dezember letzten Jahres ein Kind aus der Region an Leukämie erkrankte. Denn es war ja schon der 16. Fall in 15 Jahren.

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Atommacht in einer Woche: Kernforschungszentrum Geesthacht mit AKW Krümmel

Die am 2. April vom ZDF zu später Stunde gesendete Dokumentation »Und keiner weiß warum. Leukämie-Tod in der Elbmarsch« bietet allerdings genügend Anlaß für Aufregung in den verantwortlichen Ministerien von Kiel und Hannover. Nirgendwo auf der Welt gibt es eine solche Häufung von Leukämie-Erkrankungen auf so begrenztem Raum. Daher haben Eltern, Bürger, Ärzte und einige lokale Politiker immer wieder Alarm geschlagen und alles Erdenkliche unternommen, um die Ursachen herauszufinden und zu beseitigen. Anfangs richtete sich der Verdacht auf das Atomkraftwerk Krümmel vor ihrer Haustür. Vor fünf Jahren zeichnete sich eine Wende in den Untersuchungen ab. Die unabhängige Gutachtergruppe ARGE PhAM, Weinheim, untersuchte Bodenproben aus den betroffenen Gemeinden und fand darin winzige Kügelchen mit spaltbaren Elementen, wie sie in einem Hochtemperaturreaktor verwendet wer den. Ein solcher Brennstoff kann jedoch nicht in Krümmel, einem herkömmlichen Leichtwasserreaktor, eingesetzt werden. Seit dieser Zeit stellt sich die Frage. was eigentlich in der zweiten örtlichen Atomanlage vorgeht, einem Forschungszentrum, das von der Gesellschaft zur Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt (GKSS) betrieben wird. Dort soll sich nämlich am 12. September 1956, vier Monate nach Tschernobyl, ein Brand ereignet haben, bei dem Radioaktivität freigesetzt wurde.

Die GKSS bestreitet das. Die Aufsichtsbehörden und Länderministerien weisen es als abenteuerliche Spekulation zurück. Weder im Atomkraftwerk noch in der Forschungsanlage habe es je einen gravierenden Störfall gegeben. Auch die Strahlenschutzkommission des Bundes, damals noch unter der Obhut des grünen Umweltministers Trittin, entschied: »Insgesamt ergibt sich kein Hinweis auf erhöhte Strahlenexpositionen von Personen in der Elbmarsch und damit kein Hinweis auf Radioaktivität als Ursache für die dort beobachtete Leukämiehäufung.«

Für das ZDF war das Anlaß, die ganze Geschichte nicht nur minutiös nachzuzeichnen, sondern auch eine erneute Analyse zu begleiten, die von der Bürgerinitiative gegen Leukämie und der Vereinigung der Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) Ende 2004 in Auftrag gegeben wurde. Zeitgleich mit der Sendung veröffentlichten die BI und IPPNW die Ergebnisse: In den neuen Bodenproben wurden die typischen Kügelchen nachgewiesen. Sie enthalten die Elemente Uran, Thorium und Plutonium in signifikanter Konzentration. Insbesondere der Thoriumbefund widerlegt die Behauptung, es handele sich »nur« um das Erbe von Tschernobyl oder von früheren überirdischen Atomwaffentests. Wieder richten sich alle Fragen an die Adresse der GKSS.

Dort wird man mit den alten Antworten diesmal nicht über die Runden kommen. Überraschend präsentierte das ZDF zwei neue Zeugen, die im September 1956 - auf den Tag genau konnten sie sich nicht erinnern - einen spektakulären gelb-grün-bläulichen Schein über dem Gelände der GKSS wahrgenommen haben. Das könnte die Widerspiegelung eines Feuers gewesen sein, aber auf einen gewöhnlichen Brand trifft diese Beschreibung kaum zu.

Was könnte passiert sein? Geheime kerntechnische Experimente'? Versuche mit abenteuerlichen physikalischen Prozessen? Gar verbotene Atomwaffenforschung? Ich habe im Verlauf dieser Untersuchung den Mann kennengelernt, der die Mikrokügelchen als erster gefunden hat und der beharrlich immer wieder darauf insistiert, daß sie der Schlüssel zur Aufklärung sind. Es ist aufschlußreich, ihm zuzuhören.

Heinz-Werner Gabriel hat seine Laufbahn bei Klaus Traube begonnen, später der bekannteste Aussteiger aus der Atomtechnik, den die Bundesrepublik vorzuweisen hat. Bei AEG Telefunken bekam Gabriel die Zuständigkeit für Strahlenschutz und mußte, häufig über Nacht, Konzepte entwerfen, Maßnahmen umsetzen, sie vor Ort vertreten und überwachen. »Mein erster Job war die Abdeckung einer kleinen Forschungsanlage, die im Keller gelegen und nur von einem horizontalen Schutz umgeben war. Da huschten die Neutronen unter die Röcke, wenn die Damen die Kellertreppe hinaufstiegen.« Dann bekam er größere .Aufgaben. Am Bau von vier Siedewasserreaktoren war er unmittelbar beteiligt. Damals hätten sieh Vorfälle ereignet, »das ahnen Sie nicht«.

Beinahe-GAU im AKW Lingen

Am gefährlichsten sei die Inbetriebnahme des (erstem) AKW Lingen gewesen. Die Steuerstäbe ließen sieh nicht in den Reaktorkern einfahren, aber der Reaktor war schon heiß, die nuklearen Reaktionen waren bereits angelaufen. Wie sollte er also wieder heruntergefahren und überhaupt gesteuert werden? Es sah so aus, als würde sieh der Reaktor unaufhaltsam bis zur Kernschmelze erhitzen, weil ihn nichts mehr daran hindern könne. Dabei war das Einfahren der Steuerstäbe vorher getestet und abgenommen worden. Das war aber nur bis zu Temperaturen von ca. 500 Grad real überprüft worden; das Ausdehnungsverhalten der Stäbe bei höheren Temperaturen war daraus extrapoliert worden. Die Berechnung war falsch. Die Stäbe dehnten sich stärker aus als berechnet und blieben in ihren Führungen stecken.

Steuerstäbe sind die einzige Regulierung, der einzige Ausschalter bei einem Atomkraftwerk. Man fährt sie zwischen die Brennstäbe, und sie »schlucken« so viele Neutronen, daß die nukleare Kettenreaktion gedämpft und, wenn nötig, unterbrochen wird. Wenn das nicht funktioniert, hat man eine Katastrophenlage, wie sie in denn Filmklassiker »China Syndrom« anschaulich gezeigt wird. Auch in Tschernobyl war alles zu spät. als dieser Mechanismus versagte.

Gabriel brach in Traubes Gefolge nach Lingen auf. Die einzige Lösung, die ihnen noch einfiel, bestand darin, das Wasser des Reaktorkerns, in dem sieh die Brennstäbe befinden, komplett abzulassen. Wasser dient nicht nur zur Kühlung. d. h. zur Abfuhr der Wärme und zur Weiterleitung der Energie in die Turbinen. sondern es verlangsamt auch den Neutronenfluß zwischen den Brennstäben. Langsame Neutronen lösen die Uranspaltung wirksamer aus als die schnellen Neutronen, die dabei wiederum neu entstehen. Die Hoffnung war also, daß die Kernreaktionen aufgrund der zu hohen Schnelligkeit der Neutronen abnehmen und schließlich zum Erliegen kommen würden. Tag und Nacht wurden entsprechende Berechnungen angestellt. Denn was man da vorhatte, war gleichzeitig das, was man im allgemeinen bei Kernkraftwerken am meisten fürchtet: Man würde einen Totalausfall des Kühlsystems herbeiführen! Normalerweise kommt so etwas einem Selbstmord gleich. In diesem Fall, wo der Reaktor gerade zum ersten Mal hochgefahren worden war und somit noch wenig Spaltprodukte enthielt, konnte man hoffen, daß die sogenannte Nachwärme (bis zu 20 Prozent der bei der Kernspaltung erzeugten Wärme) noch nicht für eine Kernschmelze oder eine massive Zerstörung ausreichen würde.

Schließlich habe man es riskiert, sagt Gabriel. Zum Glück waren diese Berechnungen richtig. Sonst hätte sich Lingen, noch vor Harrisburg und Tschernobyl, in die Geschichte der Super-GAUs eingeschrieben.
Was Gabriel besonders imponiert: Traube sei auch, nachdem das Schlimmste überstanden war, vor Ort geblieben und habe die Nacharbeiten geleitet, die Überholung des Werks, den Umbau der Steuerstäbe u. a. m. Er habe sich verantwortlich gefühlt, Tag und Nacht gearbeitet. aber gern auch mal einen guten Wein getrunken.

Was mich besonders beeindruckt, ist etwas anderes. Jahre später, nach Tschernobyl. schrieb Traube einen ausgezeichneten Artikel über die Frage, ob ein solcher Unfall in einem deutschen Atomkraftwerk möglich sei. In den Augen unserer Politiker sind wir ja, was Reaktorsicherheit betrifft. »Weltspitze«. Der Text endet mit dem Satz: »Wer sagt, eine solche Katastrophe sei bei uns auszuschließen, versteht entweder nichts von der Materie, oder er sagt bewußt die Unwahrheit.« Jedoch vermeidet es einer unserer bekanntesten Atomkritiker hinzuzufügen: Ich habe das übrigens selbst erlebt, damals in Lingen. Gabriel meint dazu, Traube habe sieh unter einem kaum vorstellbaren Druck seiner früheren Kollegen und Auftraggeber befunden.

Vergangene Zeiten, als sieh die Macher der Atomtechnik noch mit aufgekrempelten Ärmeln an die Arbeit begaben. Nach der Belastung der Lingener Umwelt durch das Ablassen des Kühlwassers wurde sicher auch gefragt (vermutlich ist es als Dampf ausgetreten). Großes Kopfzerbrechen hat das wohl niemandem bereitet. Es bedarf keiner üppigen Phantasie, sich vorzustellen, wie viele derartige Situationen es wahrscheinlich auf der Welt gegeben hat und wieviel wir davon wissen. Fünf Prozent?

Dann sei er zehn Jahre bei der Mannheimer Firma HTR gewesen. Diese beschäftigte
sich mit dem Bau von Hochtemperaturreaktoren. Der Reaktortyp THTR (Thorium Hochtemperaturreaktor, manchmal auch als Kugelhaufenreaktor bezeichnet) galt in den siebziger Jahren als besonders zukunftsträchtig-- ein Lieblingskind sozialliberaler Energiepolitik. Er wurde in Hamm-Uentrop (NRW) gebaut, muhte aber nach nur zweijährigem Betrieb stillgelegt werden und ziert nun als übermächtiges Denkmal die Einfahrt nach Hamm und die Aussicht der dort weidenden Kühe. Ich kenne das aus eigener Anschauung: Man führt nach Hamm, denkt an nichts Böses, durchquert ein freies Stück Land, und es ist, als ob einem mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen wird.
Der konzeptionelle Fehler des THTR, so Gabriele, habe darin bestanden, daß dieser Reaktor nach außen gewissermaßen versiegelt worden sei. So sei er aber gar nicht mehr zu warten gewesen. Das hindert uns freilich nicht daran, diesen Reaktortyp auch heute noch anderen Interessenten anzubieten, z. B. Südafrika oder China.

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Wo ist eigentliche der Aus-Schalter? Radioaktiver Abfall auf dem Gelände des Kernforschungszentrums Geetshacht, Dezember 2000

 

Aus seiner damaligen Zeit stammen Gabriels Kenntnisse des Brennstoffs, der für den THTR eingesetzt wurde. Er setzt sich nämlich anders zusammen als der übliche Kernbrennstoff, welcher aus leicht angereichertem Uran besteht (3 Prozent spaltbares U 235, 97 Prozent nicht spaltbares U 238). Der THTR-Brennstoff besteht aus Thorium Th 232 und hochangereichertem Uran U 235. Letzteres bezogen die Betreiber aus den USA, vielmehr wollten sie es daher beziehen. Diesem Plan. so Gabriel, setzte der damalige US-Präsident Carter mit seiner restriktiven Atomexportpolitik 1977 ein vorzeitiges Ende. Carter untersagte wegen der Proliferationsgefahr den Export von hochangereichertem Uran.

Als Ersatz für U 235 habe man sieh für Plutonium entschieden, um vergleichbare Spalteigenschaften des Brennstoffs zu erzielen. Der THTR-Brennstoff würde sich also abweichend von der ursprünglichen Konzeption aus Thorium, Uran und Plutonium zusammensetzen. Für die Produktion war die Hanauer Nukem zuständig, die für diesen Zweck eine Tochterfirma Nukem-Hobeg gründete. Zwar war Nukem eigentlich nicht für eine Plutoniumverarbeitung vorgesehen (dies war vielmehr Sache der benachbarten Firma Alkem), und die Genehmigung war auch immer umstritten. Aber die Firma berief sieh auf einen Bestandsschutz alter anfänglicher Genehmigungen, die den Umgang mit 5 Kilogramm Plutonium erlaubten.

Der mit Plutonium substituierte Brennstoff für den THTR ist GAbriebs eigentliches Thema. Er enthalte nämlich als Grundsubstanz genau jene Mikrokügelchen, die er in Hanau-Wolfgang und am Elbufer von Geesthacht gefunden hat. Und das Hantieren mit diesem Brennstoff ist, nach Gabriel, auch die Ursache für die beiden Unfälle, die er behauptet: im September 1986 in Geesthacht und im Januar 1987 in Hanau.
Zu dem Hanauer Unfall vertritt Gabriel somit eine andere Hypothese als jene, die von AKW-Kritikern zu diesem Geschehen angenommen worden war. In den achtziger Jahren hatten wir vermutet, in vielen nukleartechnischen Einrichtungen (Hanauer Atombetriebe, Kernforschungszentren) sei eine illegale Plutoniumproduktion betrieben worden, d. h. der Versuch, Plutonium außerhalb der Kontrolle der IAEO zu extrahieren, wahrscheinlich um es militärischen Zwecken zuzuführen. So hatten wir auch den Hanauer Unfall gedeutet: Nukem, für den Umgang mit Plutonium eigentlich nicht ausgelegt, betreibt unter der Hand aber doch eigne kleine Wiederaufarbeitung. Dabei tritt einmal das Gift aus, nach offiziellen Angaben 0.4 Milligramm, und verseucht einen Arbeiter schwer, andere möglicherweise auch, aber nicht so intensiv. Dieses Bild hatten wir aus vielen Mosaiksteinchen von bekanntgewordenen Informationen zusammengesetzt, und diese Arbeit hatte viel Anerkennung gefunden. Denn sie lieferte auch eine Erklärung für jenen Bestechungsskandal rund um die Nukem-Tochter Transnuklear, der Ende 1987 in der Bundesrepublik für Aufregung sorgte.

Aber Gabriel behauptet etwas anderes. Dem Ingenieur zufolge wurden die modifizierten Brennstoffe für den THTR also in Hanau hergestellt. Das Plutonium sei im Kernforschungszentrum Karlsruhe, wo es einen kleinen Schnellen Brüter gab, produziert worden. Beim Umgang mit diesen Brennstoffen. d. h. beim Umgang mit jenen Mikrokügelchen, sei es nicht einfach zu einer Freisetzung von Plutonium aus einer kleinen Probe, sondern zu einer Detonation im Gebäude der Nukem gekommen. Nicht ein, sondern 36 Arbeiter seien kontaminiert worden. Gabriel hat später wie er sagt, im Auftrag der Nukem medizinische Untersuchungen an diesen Arbeitern durchführen lassen. Dabei sei die Strahlenschädigung deutlich nachweisbar gewesen. Viele dieser betroffenen Arbeiter seien beute an Krebs erkrankt. Sie würden nicht an die Öffentlichkeit gehen, weil sie um ihre Betriebsrente fürchteten.

Die bei der Detonation im Januar 1987 freigesetzten Mikrokügelchen könne man heute noch in Hanau-Wolfgang, vor allem in einem Waldstück in der Nähe der ehemaligen US-Kasernen, finden. Man müsse nur an solchen Stellen suchen. bei denen man davon ausgehen könne, daß sie nie umgegraben worden sind, z. B. zwischen den Wurzeln alter Bäume.

Für die behauptete Detonation führt Gabriel einen verblüffenden Beleg an. Das betreffende Nukem-Gebäude sei 2003 im Abriß gewesen. Dies konnte man nicht einfach wie bei einem gewöhnlichen Fabrikgebäude machen, sondern man mußte radioaktive Entsorgungsrichtlinien beachten. Irin Kripobeamter habe daher diese Arbeiten inspiziert. Dabei sei er von dem Nukem-Ingenieur Paul Börner begleitet worden. Der habe dem Beamten freimütig gesagt: »Jetzt, wo es verjährt ist, kann ich es Ihnen ja sagen: Das ist das Gebäude_ das uns damals hochgegangen ist.« Diese Aussage sei in den Akten der Hanauer Staatsanwaltschaft enthalten.

Gabriel sagt aber auch: Zum Zeitpunkt des Unfall, war .Joschka Fischer Umweltminister in Hessen. Zwar war nicht er für die Atomanlagen zuständig, sondern der damalige Wirtschaftsminister Ulrich Steger. Sicherlich habe er gleichwohl vom wahren Ausmaß des Geschehens, von seinen Hintergründen, Ursachen und Folgen erfahren. Aber er habe geschwiegen. Deshalb seien die Grünen nicht an der Aufdeckung jener Vorfälle interessiert. Dabei übersieht Gabriel die Hanauer Grünen. Aber in diesem Milieu kennt sich der Ingenieur nicht so gut aus.

Steger (SPD) allerdings sei durch das Geschehen so belastet gewesen, daß er politisch nicht mehr tragbar war und als Professor in die Schweiz abgeschoben wurde. Heinz-Herbert Karry, vormals hessischer Finanzminister (FDP), habe das Programm mit seinem Leben bezahlt. Er sei wahrscheinlich von östlichen Geheimdiensten ermordet worden. Denn diese Techniken seien militärisch äußerst brisant gewesen: sie seien für die Entwicklung neuer Atombomben. z. 13. Neutronenbomben, nützlich und Karry habe für einen Know-howTransfer nach Israel gesorgt. »Vierzehn deutsche Wissenschaftler und Techniker gingen für einige Monate nach Desdemona in die NegevWüste, um die Israelis zu unterstützen, das weiß ich doch genau«. sagt Gabriel. Dies habe Israel einen bedeutenden technischen Vorsprung verschafft, und dafür sei Karry bestraft worden.

Man ist natürlich versucht zu sagen. da seht ihr's wieder, die Startbahngegner und die Revolutionären Zellen waren es nicht (sie gelten in Sachen Karry-Mord wegen eines dubiosen Bekennerschreibens bis heute als Hauptverdächtige). Aber unter all den haarsträubenden Vermutungen zu Karrys Tod habe ich diese noch nie gehört. und sie ist auch bestimmt die abenteuerlichste.

Gabriel vertritt diese Thesen mit allem Ernst und ohne zu merken, wie unglaubwürdig er sieh dadurch macht. In seiner naturwissenschaftlich-technischen Welt gibt es einen eher engen Determinismus zwischen Ursachen und Wirkungen, der auch in unseren immer komplexer werdenden Techniklandschaften seine Gültigkeit behält. Dieses Denken überträgt er auf andere Gebiete Politik, Gesellschaft, Psychologie. Aber ihm fehlt das Bewußtsein, wie riskant seine Schlüsse und Beweisführungen dann werden können.

Was ich damit sagen will: Wenn wir die politischen Verschwörungstheorien mit Recht zurückweisen, so heißt das nicht, daß wir den Ingenieur auf seinem Spezialgebiet, dort, wo er sieh auskennt wie kein anderer, ignorieren könnten.

Halten wir also fest, was wichtig ist - wichtig, um möglicherweise eine Erklärung für jene mysteriöse Häufung von LeukämieErkrankungen am Elbufer bei Geesthacht zu finden. Sowohl in Hanau als auch in Geesthacht sind in bestimmten Stadtteilen Mikrokügelchen in Bodenproben nachweisbar. Davon gibt es drei Sorten, die man nach ihrem Durchmesser unterscheiden kann: ca. 5 Tausendstelmillimeter, ca. 20 Tausendstelmillimeter, ca. 50 Tausendstelmillimeter. Unter dem Mikroskop sehen sie gleich aus sie sind identifizierbar. Dies wird im Grunde auch von niemandem bestritten.

Gabriel behauptet: Diese Kügelchen kommen alle aus der industriellen Produktion von Nukem-Hobeg. Sie haben eine definierte nukleartechnische Zusammensetzung. Das wird von seinen Gegnern bestritten. Die Gegenseite findet phantasievolle Erklärungen für die Herkunft der Mikrokügelchen: Wurmkot, Baumharz, Flugasche. Dieser Streit läßt sieh mit technischen Mitteln klären, und er ist, das hat die ZDF-Dokumentation gezeigt, auch geklärt.

Im Jahr 2001 kam Gabriel zum ersten Mal nach Geesthacht. Dort hat er eine Bodenprobe auf einer Folie ausgebreitet und verteilt. Er habe den schon feinen Staub mit den Fingern weiter zerdrückt und zerrieben. Dabei habe er etwas Hartes gespürt. Wenn er leicht mit dem Finger über die Folie fuhr, habe etwas gekratzt. Da habe er schon geahnt, was er finden würde. Eben das, was er schon aus Hanau kannte, weil jene Mikrokügelchen mit einer Titanschicht umgeben seien. Wir haben es also, wenn wir der Lachnummer folgen, die vom hessischen Umweltminister inszeniert wurde, mit Würmern zu tun, die Titan scheißen.

Mehr als eine Anekdote: Die Strahlenschutzkommission des Bundes hat bei dem Versuch, Gabriels Resultate zu widerlegen, 10-20 Seiten auf die Belehrung verwendet, wie man korrekt Messungen durchzuführen und zu bewerten habe (... wenn man über einen Millionenetat verfügt). So etwas wie der Fingertest fehlt in der Expertise. Aber manchmal findet ein Arzt. der gut tasten kann, mehr heraus als eine Computertomographie.

Es begann eine jahrelange Auseinandersetzung über die Bodenproben, die Messungen, die Interpretationen. Diese Auseinandersetzung führte schließlich im Herbst 2004 zum Rücktritt der schleswig-holsteinischen Leukämiekommission, die sieh von der Landesregierung in ihrer Arbeit behindert fühlte. Hier nun (Gabrieles Hypothese für das Geschehen im Atomforschungszentrum Geesthacht (GKSS), welches zur Freisetzung der Mikrokügelchen geführt haben könnte:
Die GKSS wurde nach 1945 von zwei Forschern, Erich Bagge und Karl Diebner, aufgebaut und geleitet, die im nationalsozialistischen Atombombenprojekt die Rolle von Hardlinern gespielt hatten. Nach dem Krieg blieben sie bei ihren Überzeugungen und setzten ihre Arbeiten, zunächst mit unbekannten Fördermitteln, fort. In den sechziger und siebziger Jahren gelang es ihnen, in Schleswig-Holstein ein Netz diverser Einrichtungen aufzubauen, in welchem reine Grundlagenforschung ebenso betrieben werden konnte wie die Erledigung sehr konkreter Aufgaben im Auftrag der Bundeswehr. Dort galt das Hauptaugenmerk der deutschen Bombe oder, wie Gabriel es ausdrückt, der Fähigkeit, »ready in one week« zu werden, Atommacht in einer Woche. Das hätten sie auch geschafft. Nur zum letzten Satz melde ich Widerspruch an. Ich halte nicht viel vom wissenschaftlichen Können dieser Ttypen. Aber da ist Gabriel ganz anderer Meinung.

Von den zahlreichen Publikationen dieser Leute, die sich oftmals unverhohlen mit den Details der Atombombenkonstruktion beschäftigen, hat Gabriel eine mitgebracht. Der Artikel wurde in den achtziger Jahren in der Zeitschrift »Atomenergieforschung« (Heraus-(Herausgeber GKSS) veröffentlicht, und es geht darin um die Idee eines sogenannten Hybridreaktors, einer Fortentwicklung des Hochtemperaturreaktors. habe ich das jetzt richtig geschrieben? Heißt es »hybrid« im Sinn von Kreuzung/Züchtung (aber auch: Größenwahn) oder »hydrid« im Sinne einer Verbindung mit Wasser? Beides macht Sinn. Der Hybridreaktor wäre ein mit schwerem Wasser (Deuterium, Tritium) kombinierter Hochtemperaturreaktor, der sowohl Spalt- als auch Fusionsprozesse miteinander kreuzen würde, ein »fission-fusion«-Reaktor. Die durch die Kernspaltung freiwerdende Energie würde wie bei der Zündung einer Wasserstoffbombe Kernfusionen in dem Deuterium-Tritium-Gemisch auslösen und damit noch wesentlich mehr Energie erzeugen.

Zu diesem Thema ist Gabriel zufolge nicht nur Papier produziert worden. Das habe man auch in die Tat umzusetzen versucht, und zwar in der GKSS (und in Hanau?). Dabei sei es zu jenem Brand im September 1986 gekommen. Wir dürfen uns hier nicht einen gewöhnlichen Reaktor mit Betonkuppel und Kühlturm vorstellen, das wäre ja nicht unbemerkt geblieben, sondern eine Versuchsanlage, in welcher ., vermutlich, hoffentlich! - mit relativ geringen Mengen nuklearer Materialien experimentiert wurde. um einige der erwünschten Reaktionen hervorzurufen und zu messen. Auf' diesem Weg hätte man Daten gewonnen, die vielleicht die Konstruktion einer produktiven Anlage erlaubt hätten.

Diese Daten habe man auch gewonnen, meint Gabriel. Nur seien sie das Aus für den Hybridreaktor gewesen. Die Reaktivität des Deuterium-Tritium-Gemisches sei nämlich bei der Betriebstemperatur des Reaktors wesentlich höher als angenommen: Es finden mehr Fusionsprozesse statt als gedacht. Laienhaft übersetzt: Ein Hybridreaktor macht das, was wir am Beispiel Lingen schon erörtert haben, nur noch viel effektiver. Er fährt hoch und explodiert. Da hat man keine Chance mehr, das Wasser abzulassen.

Der Ingenieur läßt offen, wie die Unfallabläufe in Geesthacht und in Hanau im einzelnen gewesen sind. Er sagt nur: Im einen Fall war es eine Überhitzung, ein Brand, im anderen eine Detonation. In jedem Fall ist klar, daß solche Experimente wahnwitzig sind. Sie zeichnen ein Bild der Aktehre, wie wir es vom NS-Atombombenprojekt haben. Sie zeigen den deutschen Physiker wie von Gründgens inszeniert: als skrupellosen, besessenen Faust, der im Vollrausch Essenzen aus seinen Violen zusammenkippt und mit gestelzten Versen dem Satanismus huldigt.

Auf den ersten Blick schon erscheint es abenteuerlich, die Funktionsweise der Wasserstoffbombe in einem Reaktor nachzubilden. der ja kontinuierlich, kontrolliert, gezähmt arbeiten und Energie abgehen soll. Wie bei jedem Kraftwerk stellt sieh erst recht beim Fusionsreaktor die Frage: Wo ist eigentlich der Aus-Schalter? Beim »fission-fusion«-Reaktor würde man die für Laien kaum vorstellbare Gewalt des Sonnenfeuers mit der Trägheit des herkömmlichen Reaktors kombinieren, der sieh nur in Stunden und Tagen herunterfahren läßt. Diese Kombination - falls sie überhaupt jemals funktioniert -- wäre die Garantie dafür, daß praktisch kein Störfall beherrschbar bleibt und jede kleine Unregelmäßigkeit zum SuperGAU eskaliert.

Daher beruht der allgemein verfolgte Weg. aus Kernfusionen Energie zu gewinnen, auf einem ganz anderen Prinzip, (las man der Motortechnik abgeschaut hat. Riesige Magneten pressen ein Millionen Grad heißes Plasma zusammen, bis es darin zu Fusionen kommt. Sobald das der Fall ist, wird das Plasma durch die Fusionsenergie auseinandergerissen - die Kraft der Magneten reicht nicht mehr aus. Dadurch werden die Fusionen gestoppt. Das Plasma verliert wieder Energie und kann erneut zusammengepreßt werden, um die nächsten Fusionen hervorzurufen. Es oszilliert.

Man kann das mit guten Gründen für unsicher halten. Aber immerhin beinhaltet das Konzept wenigstens theroretisch eine Art inhärenter Sicherheit vor dem versehentlichen Zünden einer Wasserstoffbombe.
Wie soll man so ein Unternehmen wie jenen Hybridreaktor veranschaulichen'? Die Kritik der militärischen Nutzbarkeit dessen, was in den Hanauer Atomanlagen und anderswo betrieben wurde, die Kritik am dual use-Prinzip, das dort verfolgt wurde, haben wir früher in dem Satz zusammengefaßt: Nukem verfolgt die Hiroshimalinie (Uranbombe) und Alkem die Nagasakilinie (Plutoniumbombe). Wenn zutrifft, was Gabriel berichtet, dann müßten wir hinzufügen: Die GKSS, der Hybridreaktor und bis zu einem gewissen Grad auch der Hochtemperaturreaktor stehen für die H-Bomben-Linie. Dann hätte es in den achtziger Jahren neben den allgemein augenfälligen und verdächtigen Anlagen der Plutonium wirtschaft, Schneller Brüter und Wiederaufarbeitungsanlage, weit fortgeschrittene Versuche der Bundesrepublik gegeben, sich nach dem gleichen dual use-Prinzip Techniken der H-Bombe anzueignen.

In knapp 30 Jahren Anti-AKW-Bewegung ist meines Wissens ein solcher Verdacht - sehr vorsichtig, sehr zurückhaltend - überhaupt nur ein einziges Mal aufgekommen. Das war, als sieh die Hamburger Gruppe »Atomwaffenverzicht ins Grundgesetz« mit der GKSS beschäftigte und 1989 dazu eine Broschüre publizierte. Dabei war das manische Interesse der Leute um Bagge und Diebner an der H-Bombe aufgefallen. vor allem ihre unangenehme Prahlerei, das NS-Projekt habe bei der Erforschung der Wasserstoffbombentechnik zeitweise einen Vorsprung vor Los Alamos gehabt. Wir hielten diese Leute freilich eher für einen exotischen Ableger der deutschen Atomfamilie und waren weit davon entfernt, sie mit einem bedeutenden Großprojekt, dem Hochtemperaturreaktor, zusammenzubringen. Wir konnten uns auch nicht vorstellen, daß dieser HTR von dem abenteuerlichen Modell eines Hybridreaktors getoppt werden könnte, der ein weltweites Unikum in der Fusionstechnik darstellt. Das haben wir weder Helmut Schmidt noch Helmut Kohl, weder Stoltenberg noch Matthöfer, weder Börner noch Wallmann und schon gar nicht Johannes Rau zugetraut. Sind wir naiv gewesen? Und doch ist die Geschichte nicht so unmöglich, wie sie auf den ersten Blick scheint. Als das Apartheidregime in Südafrika. das sich übrigens einer engen nuklearen Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik erfreute, am Ende war, enthüllten einige Physiker der RSA (die mit ihren Abfindungen unzufrieden waren), das Land habe mehr als 20 Atombomben besessen, darunter vier bis fünf Wasserstoffbomben.

Nach seinem Engagement für den Hochtemperaturreaktor war Gabriel in diversen Kommissionen und Arbeitsgruppen tätig, für Matthöfer (SPD, zeitweise Forschungsminister), für Rappe (früherer Vorsitzender der IG Chemie, bekannt für sein entschiedenes Eintreten zugunsten der Kernenergie), für Steinkühler (früherer IG-Metall-Vorsitzender) und Klaus Mehrendt (früherer Leiter des IG-Metall-Bezirks Frankfurt; unter seiner Regie soll es einen Arbeitskreis Kernenergie gegeben haben). Damals ging es offenbar um die Ausarbeitung einer sozialdemokratischen Strategie für die Nuklearpolitik. Als diese Tätigkeiten zu Ende gingen, sei er aus der Produktion raus gewesen. Seitdem arbeitet er als Gutachter für die verschiedensten Auftraggeber.

Gabriel verhehlt nicht, daß er im Grundsatz positiv zur Atomenergie steht. Um sie ist es seiner Meinung miserabel bestellt. Ehemalige Kollegen von ihm seien heute damit beschäftigt, die gleichen Anlagen abzureißen, die sie gebaut hatten. Auf allen laste ein Klima der Depression. Trotzdem verdiene die Atomenergie eine zweite Chance. Voraussetzung für einen Neubeginn sei jedoch die ehrliche und schonungslose Aufarbeitung der begangenen Fehler, der vertuschten Gefahren, der schmutzigen Geschäfte, die es gegeben habe. Dazu möchte er beitragen. Aber selbst wenn das geschieht, wovon wir weit entfernt sind, ist er seiner Sache nicht sicher. »Ist der menschliche Charakter dazu geeignet. etwas wie die Atomtechnik zu betreiben?« Mehrfach benutzt er die Kategorie des Charakters, wobei ich nicht weiß, ob wir das gleiche meinen (Charakter bedeutet Prägung und hat somit sowohl eine individuelle wie auch eine soziale Dimension: Charakter ist keine Gattungseigenschaft). Es erinnert mich an ein denkwürdiges Gespräch mit dem Manager einer Nuklearfirma vor vielleicht 20 Jahren. Der sagte damals: »Nach uns kommen skrupellose Leute. Absolut skrupellos.«

Noch mehr erinnert es an den Zukunftsforscher Robert Jungk und an seine düstere Vision vom Atomstaat. All das, wofür Jungk den Begriff »Atomstaat« verwendet hat, hat in den letzten zwei Jahrzehnten bedeutende Fortschritte gemacht. Und während das geschehen ist, haben wir seinen Vorschlag, nämlich ein basisdemokratisches offenes Netzwerk zu schaffen, in dem sich Wissenschaftler und Techniker wie Gabriel austauschen könnten, in dem sie mit Beschäftigten, Bürgerinitiativen, Betroffenen einen kritischen, auch kontroversen Dialog pflegen könnten, leider vergessen.

Wie die frühere Hanauer Bürgermeisterin Härtel, wie die frühere schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Simonis, wie ihr früherer Umweltminister Müller undsoweiterundsofort, so reagieren auch die inzwischen verantwortlichen Politiker mit der hitzigen Entgegnung, all das seien »wirre Verschwörungstheorien«. Ihnen muß man gleich dreimal widersprechen: Die kritischen Wissenschaftler haben nicht nur Mutmaßungen. sondern auch Fakten vorgetragen, auch wenn man unterschiedlicher Meinung über deren Bewertung sein kann. Insofern sie aber tatsächlich Verschwörungstheorien verbreiten. sind die nicht wirr, sondern plausibel. Und schließlich, wenn wir genau hinsehen, handelt auch der Atomstaat von Verschwörungstheorie. Oder etwa nicht" Und wenn doch, warum?

Detlef zum Winkel schrieb in KONKRET 3/06 über die Möglichkeiten des Irans, Atombomben zu bauen


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