RWE-Stromnetz hält Wintereinbruch nicht stand| Unsere Zeit vom 02.12.2005

RWE-Stromnetz hält Wintereinbruch nicht stand
Die Mär von der Jahrhundertkatastrophe

Das Münsterland war tief betroffen. Völlig unerwartet verschied am vergangenen Freitag der Herbst, nicht ohne dass der Winter geboren wurde. Ob dieses „Jahrhundertereignisses" brachen Teile der Infrastruktur zusammen bzw. zeigten sich dem nicht gewachsen.

Beinahe schon gewohnt waren die Bilder vom Chaos auf den Straßen. Kilometerlange Staus auf den Straßen, etwa 2 000 Unfälle, mindestens ein Toter, zahlreiche Verletzte. Vor allem LKWs mit Sommerreifen standen quer, blockierten die Autobahnen, wo Tausende bis zu 24 Stunden in kilometerlangen Staus standen. Unvermeidlich? Nein, logische Folge der fehlenden Vorschriften über Winterbereifung von LKWs, der nicht ausreichenden Investitionen in den Straßenverkehr, der einseitigen Verlagerung des Güterverkehrs von der Schiene auf die Straße usw. usf.

Apropos Schiene. Auch der Schienenverkehr brach teilweise oder ganz zusammen. In den Siebzigerjahren hieß der Bahnslogan: „Alle reden vom Wetter, wir nicht." Damals redete keiner von Privatisierung. Bei Wintereinbruch rückte das Personal vorsorglich (!) aus, kontrollierte Oberleitungen, räumte Schneeverwehungen und befeuerte Weichen, wenn sie vom Einfrieren bedroht waren. Sämtliche Züge wurden nach der Fahrt gewartet und kamen nur in erstklassigem Zustand zum Einsatz. In Zeiten des rasenden Personalabbaus ist davon keine Rede mehr.

Apropos Personalabbau. Nur durch den Einsatz zahlreicher ehrenamtlicher Helfer kann notdürftig kaschiert werden, dass auch der Katastrophenschutz schon lange nicht mehr das ist, was er einmal war. Kein Geringerer als Bayerns Innenminister Kurt Beckstein, zuständig für den bayrischen Katastrophenschutz, erklärte im Februar 2004: „Der Schutz der Bevölkerung ist bei Katastrophen nicht mehr gewährleistet." Und kürzte den bayrischen Etat für diesen Schutz allein im Jahr 2004 um über 10 Mio. Euro. Ein Widerspruch. Nein, gespart wird allgemein, neue Mittel werden nur für die Terrorbekämpfung gefordert, die zum Katastrophenschutz gezählt wird, aber eher weniger damit zu tun hat. Typisch, wenn dann das Krisenmanagement nicht funktioniert. So bemängelten in Ochtrup bereitstehende Helfer, dass sie sich die Beine in den Bauch stehen würden, nicht zum Einsatz kämen und die notwendige Kommunikation vermissten. Zustände also, angesichts derer die hämische Kritik an den Einsatzkräften im US amerikanischen New Orleans langsam in Halse stecken bleibt.

Das alles ist schlimm genug, wird aber übertroffen von den unglaublichen Zuständen beim Stromkonzern RWE, die aufzudecken ein etwas verschärfter Wintereinbruch reichte. Über 50 Strommasten brachen zusammen, die Stromversorgung für Hunderttausende auf dem platten Land war für Tage und ist für Zehntausende bis heute (Di. 29. 11.) nicht wieder hergestellt. Den Erklärungen der RWE Sprecher über „höhere Gewalt" widersprechen eindeutige Fakten.

Der technische Dienstleister „SAG Netz und Energie" untersuchte vor etwa zwei Jahren im Auftrag verschiedener Stromkonzerne Teile des bundesdeutschen Netzes. Die Ergebnisse waren niederschmetternd. In Zusammenarbeit mit sieben Energieversorgern nahmen die Techniker stichprobenartig Leitungen unter die Lupe. Die wichtigste Erkenntnis lautete nach Angaben der Fachzeitschrift „Elektrizitätswirtschaft": Das Stromnetz zeigt Alterserscheinungen, die „in naher Zukunft Ursache für Störfälle sein können". Die erkennbaren Mängel reichten von Korrosionsschäden an den Leitungen über Schädlings und Pilzbefall von Holzmasten bis zur Brüchigkeit von Stahlmasten. Die Urheber der Studie warnen die Branche davor, längst geplante Verlagerungen von Leitungen unter die Erde weiter hinauszuzögern. „Weil das bestehende Netz von rund 170 000 Kilometern oftmals die wirtschaftlichste Lösung für den Stromtransport ist, wird der Rückbau nicht forciert", heißt es in der Fachzeitschrift. Werde der Abbau der überirdischen Leitungen in dem Tempo weitergehen wie in den vergangenen zehn Jahren, dann bedeute das noch eine Betriebszeit von 70 Jahren für die Netze, die schon jetzt 30 Jahre alt sind.

Dies korrespondiert mit Erkenntnissen des Bundes der Energieverbraucher, die feststellen, dass die Versorgungswirtschaft ihre Investitionen in das Stromnetz Jahr für Jahr reduziert hat. Sie betragen nur etwa zehn Prozent der Netzerlöse. Seit 1998 haben die Stromversorger ihre Reinvestitionsquote von 2,5 auf teilweise unter ein Prozent des Wiederbeschaffungswertes im Jahr gesenkt (s. Statistik). Die Untersuchung von „SAG Netz und Energie" kritisiert denn auch die „ereignisorientierte Instandhaltung". Zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit müssten präventive Maßnahmen in den Vordergrund rücken (ew 2005, S. 70 ff. „Mittelspannungsfreileitungen auf dem Prüfstand `). In gewisser Weise vielsagend waren die Äußerungen des regionalen RWE Chefs Knut Zschiedrich in der ARD, die Anlagen seien nicht zu schwach gebaut, sondern auf normalen Betrieb ausgelegt gewesen.

.Angesichts der Stromausfälle im Münsterland denkt nun auch die Bundesregierung über mögliche Konsequenzen nach. Regierungssprecher Ulrich Wilhelm zufolge soll es zunächst auf der Staatssekretärsebene einen Erfahrungsaustausch geben. Es ist geplant, dabei Experten des Technischen Hilfswerks und der Energieversorgungsunternehmen mit einzubeziehen. Der Bund der Energieverbraucher mahnt zur Eile. Sein Sprecher Aribert Peters glaubt: „Solche Vorfälle wie im Münsterland werden sich häufen. Die Versorgungssicherheit ist äußerst mangelhaft." Die Stromkonzerne hätten in den vergangenen Jahren immer weniger in die Netze investiert. Das belegt eine Statistik des Verbands der Deutschen Elektrizitätswirtschaft: Die Investitionen in das Netz sanken innerhalb der vergangenen zehn Jahre von 3,6 Milliarden Euro auf 1,7 Milliarden Euro im Jahr 2004. Aribert Peters spricht von einer „ereignisorientierten Instandhaltung". „Notwendige Investitionen in das Netz unterbleiben, weil die Konzerne bei einem Ausfall nicht Rechenschaft gezogen werden können", ärgerte sich der Experte.

Aus all dem wird mehr als deutlich, dass der an schneller Dividende und niedrigsten Preise ausgerichtete Wettbewerb im Neoliberalismus die eigentliche Ursache der sogenannten Naturkatastrophe sind.

Gleichzeitig kassieren die Energiekonzerne immer dreister bei den Verbrauchern ab, man denke an die steigenden Gaspreise; lehnen im Schadensfall jede Haftung ab und werden sich nicht scheuen die Instandsetzungskosten auf die Stromkunden abzuwälzen, wenn man sie lässt.

Die Chancen sich dagegen zu wehren stehen nicht schlecht. Die Kampagne gegen die Gaspreiserhöhungen zieht immer weitere Kreise. Schlaglichtartig macht die „Katastrophe" im Münsterland vielen deutlich, dass sie wieder einmal über den Energielöffel barbiert werden sollen. Die Chancen stehen nicht schlecht, die Politik der Privatisierung und des Verscherbelns von Tafelsilber in Frage zu stellen und den RWE Konzern notfalls gerichtlich zu zwingen, Schadenersatz zu leisten.
Adi Reiher

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